Vater unser I – 9.5.2021 – Vaterunser im Himmel – Von Thomas Pichel

A.
Teil 1 der Predigt: Das Gebet steht in der Mitte unserer Beziehung zu Gott.

Ich möchte (Euch) das mit einer kleinen Geschichte und einer bibelkundlichen Entdeckung illustrieren.

1.
Die kleine Geschichte „klaue“ ich mir von Wolfgang Bittner, dem ich sehr viel im Blick auf das Beten und auch einige Gedanken zu dieser Predigt verdanke.

Ein Weinbauer aus der französischen Schweiz kommt jeden Tag in eine kleine Kapelle. Er setzt sich vor eine Christus-Statue und bleibt 10 Minuten. Der Priester, der von den Verwandten aufgefordert wurde, nach dem Vater zu sehen, was der denn jetzt plötzlich habe…, fragt ihn eines Tages, was er denn in der Kapelle mache, warum er jeden Tag mitten in der Ernte die Arbeit unterbreche. Der Weinbauer antwortet: Ich schaue Ihn an. Er schaut mich an. Und ich bin glücklich. Und ich denke, Er ist es auch.

2.
Die bibelkundliche Entdeckung verdanken wir dem Schweizer Theologen Ulrich Luz (1938-2019).

Die Bergpredigt in Mt 5-7 ist ein Kunstwerk. Es gibt 5x so etwas wie thematische Rahmen oder Klammern. Und in der Mitte steht das Vaterunser. Die Mitte des Christseins ist also das Gebet. Wer das in einer Grafik sehen möchte, kann mir unter thomas.pichel@lkg.de ein Mail schreiben. Ich schicke ihm dann diese Grafik zu.

 

B.
Teil 2 der Predigt

Zwei Vorbemerkungen:

1.
Die heutige Predigt ist der Auftakt zu einer Predigtreihe über das Vaterunser. Im Juni, Juli und August gibt es diese Predigten, wenn ich am Sonntag eingeteilt bin. Heute nun die Einführung in das Vaterunser. Die Reihe versteht sich als Hilfe, das Vaterunser neu zu entdecken.

2.
Der Kirchenvater Origenes sagt über das Vaterunser: Unser Leben ist ein unablässiges und unendliches Vaterunser. Das Vaterunser ist wie eine Entdeckungsreise. Zu Gott. Zu sich selbst. Zu anderen Menschen.

 

I.
Die Zusammenhänge des Vaterunsers in den Evangelien
(nach Wolfgang u Ulrike Bittner)

1.
Luk 11,1-4

1 Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. 2 Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. 3 Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag 4 und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden. Und führe uns nicht in Versuchung.

Wir wissen, dass Jesus viel gebetet hat. Er hat „an einsamen Orten und in einsamen Stunden“ (Wolfgang Bittner) gebetet. Die Jünger erleben Jesus als betenden Menschen. Sie hören ihn beten. Daraufhin äußern sie den Wunsch: Herr, lehre uns beten!

Das ist merkwürdig. Die Jünger können doch beten. Wenn Menschen beten können, dann jüdische Männer in Israel zurzeit Jesu. Jedes jüdische Kind lernt von den Eltern beten. Jede Familie praktiziert das Gebet.

Und doch sagen die Jünger: Herr, lehre uns beten! Ich stelle mir das mit Wolfang Bittner so vor: Sie erleben an Jesus ein Beten, das sie so nicht kennen. Es gibt keine Distanz zwischen Jesus und Gott. Da ist eine unglaubliche Nähe und Vertrautheit. Das ist das, was sie anzieht und fasziniert.

Und dann sagt Jesus: Wenn ihr betet, so sprecht. Und dann skizziert er das Vaterunser. Bedeutet das, das wir über das Vaterunser etwas vom Umgang Jesu mit Gott abbekommen können? Dann müssten wir aber mit dem Vaterunser anders umgehen. Wir kommen auf diese Frage zurück.

2.
Mt 6,5-8

5 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. 6 Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. 7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.9 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. 10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. 11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]

Jesus verteidigt das Beten gegen zwei Missbräuche. Er wehrt zweimal den frommen Missbrauch des Betens ab. Ich kann auch sagen: Er warnt uns zweimal.

a.
Da ist die erste Gefahr. Da gibt es die eine Möglichkeit, das Gebet zu missbrauchen: Wenn Öffentlichkeit dazukommt, müsst Ihr aufpassen! Präsentiert euch nicht! Präsentiert nicht, wie toll ihr beten könnt! Präsentiert eure Gebete nicht! Weder Menschen, die euch z.B. in einer Gebetsgemeinschaft zuhören, noch Gott! Macht kein Straßentheater! Performt nicht! Tretet nicht auf!

Gebet heißt eigentlich: Ich bin mit Gott allein. Wie der Weinbauer in der französischen Schweiz!

b.
Da ist die zweite Gefahr. Jesus warnt uns vor dem Heiden in uns, vor der Heidin in uns. Der Heide in uns, die Heidin in uns setzt auf Quantität und Intensität. Man ist der Meinung: Wenn ich das so und so mache, dann schaffe ich die Voraussetzung dafür, dass ich etwas bekomme. Ich muss viel beten, ich muss lang beten, ich muss oft beten. Die Logik ist: Gott muss viel bekommen von mir, damit ich von ihm etwas oder viel bekomme. Der Heide in uns, die Heidin in uns setzt Gott unter Druck!

c.
Wir können da viel über uns lernen: Die Art und Weise, wie wir beten, welche Gedanken und Worte wir beten, zeigt uns sehr viel von unserem tatsächlichen und eigentlichen Gottesbild. Am Beten wird immer klar, was wir wirklich über Gott denken!

Jesus sagt den Jüngern und uns: Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet!

 

II.
Der Aufbau des Vaterunsers

Es gibt zwei Gruppen oder zwei Strophen:

In der ersten Strophe geht es um Gott: Gottes Name. Gottes Reich. Gottes Wille. In der zweiten Strophe geht es um uns: Unser Brot. Unsere Schuld. Unsere Versuchung. Unsere Erlösung.

Es gibt also insgesamt 7 (!) Bitten, die auf zwei Gruppen aufgeteilt sind. Eine 3er-Gruppe und eine 4er-Gruppe. Die 3er-Gruppe sind Anliegen Gottes. Die 4er-Gruppe sind unsere Anliegen.

Jesus setzt also nicht mit unseren Anliegen und Bedürfnissen ein, sondern bei Gott. Er beginnt mit den Anliegen Gottes.

Martin Luther hat unterschieden: Es gebe Menschen, so Luther, die beten das Vaterunser von hinten, die beginnen immer hinten, die beginnen immer bei ihren Anliegen und kommen oft vorne gar nicht an.

Und es gibt laut Luther Menschen, die beginnen vorne, bei den Anliegen Gottes und haben vielleicht sogar die Scheu, ihre Anliegen Gott vorzulegen.

Jeder von uns kann sich fragen, wie das bei ihm derzeit aussieht.

Eine Frage ist mir in den Sinn gekommen, als ich das in der Vorbereitung las. Was muss bei mir der Fall sein, dass ich vorne bei Gott beginne und nicht bei mir?

Aber wir halten fest: Beten wie Jesus, das Vaterunser-Beten heißt: Ich stimme den Anliegen Gottes zu. Ich stimme da mit ein. Ich trete da hinzu und mach‘ mit! Ich vertraue darauf, dass Gott meine Anliegen sieht und sich um meine Anliegen kümmert. Wir werden im Lauf der Predigtreihe sehen, was das heißen kann.

 

III.
Die Anrede: „Unser Vater im Himmel

Diese Anrede ist das schönste und beste Geheimnis in unserem Leben!

1.
Unser Vater im Himmel.

Der Himmel ist ein Geheimnis. Ich sage ein paar einfache Sätze zum Nachdenken und Meditieren; Sätze, mit denen man bis zu seinem Lebensende nie fertig wird.

Nach 5 Mose 26,15 und Jesaja 26,15 und Mt 6,9 ist der Himmel der Wohnort Gottes.

Nach Psalm 2,4 und 103,19 steht Gottes Thron im Himmel. Nach Mt 5,34 ist der Himmel der Thron Gottes. Gott ist also größer als der Himmel.

Nach 1 Mose 49,25 ist der Himmel die Quelle, der Quell-Ort allen Segens.

Himmel heißt: Gott ist immer über uns. Gott ist immer da. Gott umfängt alles. In Gott ist alles enthalten. Gott erwartet mich.

2.
Unser Vater im Himmel. Das Geheimnis des „Unser“. Ich sage ein paar einfache Sätze zum Nachdenken und Meditieren; Sätze, mit denen man bis zu seinem Lebensende nie fertig wird:

Jesus teilt sein Gottesverhältnis mit uns. Er ist der Sohn. Wir sind seine Schwestern und Brüder.

Wir dürfen zusammen zu Gott gehören. Wir alle gehören Gott.

Wir gehören zusammen. Wir sind Geschwister. Wir beten nie nur für uns. Wir beten für alle anderen, weil wir alle eins sind.

Was für eine Würde! Der Vorstandsvorsitzende eines Dax-Konzerns betet so! Der Hartz-IV-Empfänger betet so! Der Gesunde betet so! Der Kranke betet so!

Was für eine Verantwortung! Wir treten zusammen vor Gott! Wir kehren zusammen zu Gott heim! Wir retten uns alle zusammen!

3.
Unser Vater im Himmel. Das Geheimnis, dass Gott unser Vater ist. Diesen Punkt übernehme ich von Siegfried Zimmer.

a.
Für uns ist das sehr geläufig und vertraut. Für uns ist das selbstverständlich. Wir stutzen nicht mehr. Wir sind nicht überrascht. Deshalb übersehen wir das Neue, das mit Jesus in Erscheinung getreten ist.

Die Menschen in der jüdischen Bibel wissen um Gottes Nähe und um Gottes Helfen und Retten. Sie wissen von Gottes Größe und Herrlichkeit. Sie wissen von Gottes Distanz und Verborgenheit.

Auch der Gedanke, dass Gott wie ein Vater ist und handelt, ist bekannt und vorhanden. Damit keine Missverständnisse auftauchen, sage ich deutlich: Gott ist auch in der jüdischen Bibel der Vater!

Und doch gibt es eine Merkwürdigkeit, die wir leicht übersehen. Es gibt nur ganz wenige Bibelstellen, wo Gott Vater genannt wird. Gott wird in der jüdischen Bibel über 6800x Jahwe genannt, über 450x Adonai, das heißt übersetzt „Herr“. Er wird über 250x Herr Zebaoth genannt. Er wird ein paar Mal König oder Heiliger genannt. Aber Gott wird nur, je nach Zählweise, 15 bis 17x Vater genannt. Z.B. einmal in 5 Mose 32,6. Zweimal in den Psalmen. Z.B. in Ps 103,13 in einem Vergleich! Häufiger bei den Propheten.

b.
Warum ist das so? Welche Erklärungen gibt es für diesen Befund?

Erklärung 1: Die Vater-Anrede war die Anrede der anderen Religionen an ihre Götter. Der lebendige Gott sollte nicht mit diesen Göttern verwechselt werden können!

Erklärung 2: Gott sollte nicht in einer patriarchalischen Welt mit den willkürlichen menschlichen Vätern verwechselt werden können.

c.
Wir müssen noch einen Gedanken dazunehmen. Wird Gott in der jüdischen Bibel als Vater angesprochen? Sehr merkwürdig und auffällig! Nur in einer einzigen Stelle! Nur einmal in Jesaja 63,16 wird Gott als Vater angeredet! “Bist ja doch unser Vater!“ Worum geht es in Jes 63? Das Kapitel 63 im Jesajabuch handelt von der letzten Zeit, wenn der Messias da sein wird und vieles, vieles verändern wird.

d.
Schon bei den Pharisäern (so um 100 vor Christus) ändert sich das etwas im Judentum. Zum ersten Mal kommt bei den Pharisäern die Anrede Gottes als Vater auf. Aber nie ohne Zusatz. Immer als Vater unser König oder Vater im Himmel.

Aber mit Jesus von Nazareth ändert sich das vollkommen. Es gibt eine Explosion der Anrede Gottes als Vater bei Jesus. Jesus redet in den Evangelien ca. 170x (!) als Vater an. Ein einziges Mal nicht, als er in seinem Todesleiden Psalm 22 zitiert. Da betet er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Die Verblüffung geht noch weiter. Jesus sagt eigentlich gar nicht Vater (griechisch pater). Jesus verwendet in seiner Gebets-Anrede Gottes die Lall-Form eines kleinen Kindes. Er sagt immer „abba“. Es ist das intimste Wort aus der Kleinkindersprache. Es ist die Zärtlichkeitsform von Vater. Er sagt also Papa. Es ist das Bild des Urvertrauens, der Unbeschwertheit, des Verstehens, der Nähe.

Jesus sah Gott nicht von außen. Da ist Gott groß, transzendent, mächtig, befreiend, heilig… Jesus sah Gott von innen. Seine Beziehung zu Gott war eine Eltern-Kind-Beziehung. Deshalb betete er so.

Er sagt uns damit: Gott ist für alle Zeiten der, dem wir vertrauen können, wie ein Kind dem Vater und der Mutter rückhaltlos, vorbehaltlos, absolut und vollständig vertraut. Gott ist der, den wir bitten können: Ich brauche deine Hand. Gott ist der, der uns seine Hand reicht und sich um uns kümmert.

e.
Begreifen wir, welches Gottesbild Jesus hatte?! Begreifen wir, welches Gottesbild wir haben und leben dürfen?! Der allmächtige Gott ist unser Vater. Der Vater ist unser Papa. Gleichzeitig ist dieser Papa der Größte und Stärkste! Was heißt das jetzt für unser Beten? Für die Antwort „klaue“ ich mir einen Gedanken von Michael Herbst (gefunden auf greifbar.net).

Es gibt einen schönen Satz von Jim Henderson. Er sagt von sich selbst, dass er zwei wesentliche Einsichten in seinem Leben gewinnen hat. Die erste: Es gibt einen Gott. Und die zweite: Ich bin es nicht.”

“Wenn wir uns mit dem Beten beschäftigen, geht es um diese beiden Einsichten: Ich bin nicht Gott. Ich bringe die große Welt da draußen und die kleine hier drinnen nicht in Ordnung. Ich kann nicht das Böse bezwingen. Ich kann nicht einmal das tägliche Brot zuverlässig absichern. Ich bin überfordert, wenn es um die Entsorgung von Schuld geht oder um Versöhnung mit meinem Nächsten. Ich bin nicht Gott. Aber Gott sei Dank gibt es einen Gott, zu dem ich „Vater“ sagen darf, weil er mehr väterliche Güte ausstrahlt, als wir uns von unseren irdischen Vätern erträumen könnten, und weil er väterlich, treu, stark, großzügig und wohlwollend für uns sorgt. Er ist eben „im Himmel“, er ist da, wo Möglichkeit und Bereitschaft zusammenkommen, Macht und Liebe, Stärke und Mitgefühl. Alles, was bei uns zerfällt, ist bei ihm vereint: der Vater und der Himmel eben. Unser Vater im Himmel, denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, so beten wir, und dazwischen stehen unsere Bitten Schlange.“ (Michael Herbst)

 

C.
Teil 3 der Predigt: Wie beten wir das Vaterunser? Wie können wir mit Hilfe des Vaterunsers die Nähe Gottes erleben? (nach Wolfgang Bittner)

Ich denke, es gibt im Blick auf das Vaterunser ein zweitausendjähriges Missverständnis, das bis heute nicht ausgeräumt ist. Christen beten das Vaterunser, indem sie den Wortlaut heruntersagen, ja oft herunterplappern…

Ich bin überzeugt davon, dass Jesus uns mit dem Geschenk des Vaterunsers nicht gesagt hat: Wenn ihr betet, dann betet immer den Wortlaut des Vaterunsers, sondern dass wir den Inhalt des Vaterunsers mit eigenen Worten beten sollen, dass wir mit freien Worten die Themen und Anliegen des Vaterunsers Gott hinlegen dürfen!

Die Anweisung Jesu heißt nicht: Betet wortwörtlich immer das Vaterunser, sondern: Betet inhaltlich die 3 Anliegen und Themen Gottes und betet inhaltlich die 4 Anliegen und Themen Eures Lebens und schließt Euer Gebet mit der Anbetung und dem Lobpreis Gottes!

Das kann in der eigenen Gebetszeit, wenn wir allein mit Gott sind, das kann aber auch in einem Hauskreis, in einer Bibelgruppe sehr spannend werden.