Prediger 11,7-12,8 – Denk an deinen Schöpfer! In der Jugend und im Alter. – Von Thomas Pichel

A.
Eine Vorbemerkung zum besseren Verständnis

Der für heute vorgeschlagene Predigttext ist Prediger 12,1-7.  Ich halte diese Textauswahl für falsch, weil die Verse 11,7 – 12,8 eine Einheit bilden.

1.
Es beginnt thematisch mit 11,7-8. Die beiden Verse sind die Einleitung.

Es ist das Licht süß, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen. Denn wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und denke an die finstern Tage, dass es viele sein werden; denn alles, was kommt, ist eitel.

2.
Dann kommen zwei Strophen, die zusammengehören. Der Aufruf „Denk an deinen Schöpfer!“ schließt die erste Strophe ab und ist die Überschrift über die zweite Strophe.

a.
Ich lese die erste Strophe, die Verse 11,9 bis 12,1a:

9 So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein in deinen jungen Tagen. Tu, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt; aber wisse, dass dich Gott um das alles vor Gericht ziehen wird. 10 Lass den Unmut fern sein von deinem Herzen und halte fern das Übel von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel. 12,1: Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend.

b.
Ich lese die zweite Strophe, die Verse 12,1 bis 12,8. Es fällt auf, dass die zweite Strophe völlig aus dem Rahmen fällt. Sie ist dreimal so lang wie die erste.

1 Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; 2 ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen, –  3 zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, und wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, 4 und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird, und wenn sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; 5 wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – 6 ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. 7 Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat. 8 Es ist alles ganz eitel (= Windhauch), spricht der Prediger, ganz eitel (= Windhauch).

 

B.
Die Homilie des Textes

I.
Das Thema und die erste Strophe.

Es ist das Licht süß, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen. Denn wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei er fröhlich in ihnen allen und denke an die finstern Tage, dass es viele sein werden; denn alles, was kommt, ist eitel.

So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein in deinen jungen Tagen. Tu, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt; aber wisse, dass dich Gott um das alles vor Gericht ziehen wird. Lass den Unmut fern sein von deinem Herzen und halte fern das Übel von deinem Leibe; denn Kindheit und Jugend sind eitel. Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend!

Was will der Prediger? Will er schlechte Laune verbreiten? Will er den jungen Leuten die Freuden des Lebens vermiesen? Nein. Er will, dass sie ein nüchternes Lebenskonzept verfolgen, dass sie die beiden entscheidenden Grenzsituationen des Lebens mit einkalkulieren: unsere Sterblichkeit und unsere Verantwortung vor Gott.

Der Prediger sagt seinen Zuhörern und uns heute 3 Dinge:

(1)
Denk an Deinen Schöpfer! Das heißt: Sei fröhlich in allen Jahren! Genieße das Leben, genieße dein Herzensglück in deiner Jugend? Genieße dein jugendliches Leben? Leb‘ dankbar, was Gott Dir schenkt! Es ist alles von ihm. Er ist die Quelle des Lebens (Ps 36,10).

(2)
Denk an Deinen Schöpfer! Das heißt: Vergiss nicht, dass es im Leben auch einen absteigenden Ast gibt. Es geht nicht nur nach oben und vorwärts. Es wird nicht immer alles (nur) besser. Alles ist vergänglich. Dein Leben hier auf Erden ist vergänglich. Freu Dich, sei dir aber der Vergänglichkeit des Lebens und Deiner Sterblichkeit bewusst.

(3)
Denk an Deinen Schöpfer! Das heißt: Vergiss nicht, dass du ihm verantwortlich bist! Gott wird mit dir über dein Leben reden. Gott wird dein Leben begutachten, bewerten, beurteilen. Nach einem Wort des ehemaligen Papstes will ich das so sagen: Wenn wir die frohe Botschaft nur als Selbstbestätigung auffassen, dann ist sie letzten Ende bedeutungslos, dann ist sie im Grunde eine Betäubung. Gottes Ja zu uns besteht auch in einem Nein zu Verhaltensweisen, die nicht gut sind und die Gott auch nie gut nennen wird.

 

II.
Die zweite Strophe.

Bei der zweiten Strophe ist es wie bei einem Fotoalbum. Nur umgekehrt. Was meine ich? Wir kennen das. Wir blättern in einem Fotoalbum. Wir schauen uns Bilder von uns als Babys, Kindern und jungen Teenagern an. Wir stellen, mal belustigt, mal wehmütig fest, wie wir ausgeschaut haben. Hier macht der Prediger das Gegenteil. Er zeigt ein Fotoalbum, wie junge Leute aussehen werden, was junge Menschen erleben werden, wenn sie das entsprechende Alter erreichen sollten. Was sagt und lehrt also der Prediger in der zweiten Strophe?

1.
Denk an Deinen Schöpfer, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen.

Das Alter, nennt der Prediger, „böse Tage“. Böse meint hier das, was man sich nicht wünscht, was man erleidet: Der Körper baut ab. Man erlebt Einschränkungen. Alles ist verbunden mit Mühen, Schmerz, Unangenehmes. Man hat kein Gefallen daran.

Der Prediger vergleicht es mit trübem, kaltem Regenwetter in der Nacht. Er meint Unwetter. Man muss diesen Vergleich nicht kommentieren. Er spricht für sich.

2.
Denk an Deinen Schöpfer, zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, und wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird, und wenn sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen.

Wie jedes Gedicht, ist auch diese zweite Strophe mehrdeutig. Ich skizziere kurz zwei Richtungen in der Auslegung. Es gibt sicher noch mehr.

Die eine Auslegung sagt: Die sozialen Kontakte nehmen für ältere und alt gewordene Menschen ab. Der Bewegungsradius wird kleiner. Vieles wird einem fremd.

Die andere Auslegung sagt: Der menschliche Körper wird als Haus der Seele beschrieben.

Die Hüter des Hauses zittern. Arme und Hände sind gemeint. Man kann sich selbst nicht mehr schützen oder verteidigen. Aber auch die Handschrift wird unsicher. Das Einfädeln einer Stricknadel wird schwierig. Die Tasten des Handys müssen sehr groß sein.

Die Starken werden krumm. Die Beine werden krumm. Sie gehorchen einem nicht mehr.

Die Müllnerinnen stehen müßig. Die Zähne werden weniger. Natürlich ist das heute etwas abgemildert durch die moderne Zahntechnik.

Die Fenster werden finster. Die Augen werden sehschwach. Grüner Star. Grauer Star. Netzhautablösung. Manche Menschen werden blind.

Die Türen schließen sich. Das sind die Ohren. Das Hören wird schwächer. Man wird schwerhörig. Natürlich ist das heute etwas abgemildert durch Hörgeräte.

Die Stimme der Mühle wird leise. Das Reden wird mühsam. Man vergisst Worte und Namen.

3.
Denk an Deinen Schöpfer, wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege.

Beschwerliche Anstiege werden gefürchtet. Ebenso das Treppensteigen. Man hat Angst zu stürzen. Man hat Angst vor dem Weg zum Doktor oder ins Krankenhaus oder ins Heim. Und man hat Angst vor dem letzten Weg, wenn es ans Sterben geht.

4.
Denk an Deinen Schöpfer, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht.

Auch hier gibt es drei Auslegungen, die wir nach meiner Meinung nebeneinander stehen lassen können.

Die eine Richtung sagt: Das sind Frühlings- und Sommerbilder. Im Frühjahr treibt der Mandelbaum neu aus. Im Frühsommer frisst sich die Heuschrecke voll und kann deshalb nur schwer sich fortbewegen. Im Hochsommer reißt die Kaper auf, um ihre reifen Samenknospen zu entleeren. Das heißt: Der alt gewordene Mensch wird Zeuge, wie die Natur erwacht – ohne ihn, wie das Leben weitergeht – unabhängig von ihm, wie das Leben vor Kraft nur so strotzt – und für ihn gilt das nicht mehr.

Die andere Richtung sagt: Das sind Bilder der Liebe, der Erotik, der Sexualität. Die Bilder legen sich selbst aus. Aber: Auch hier muss der alt gewordene Mensch lernen, dass da Dinge für ihn vorbei sind.

Die dritte Richtung sagt: Auch im Alter kann der Mensch noch einmal eine Zwischenzeit der Gesundheit, der Kraft und der Liebe erleben. Beispiele sind: Michelangelo z.B., der mit 71 Jahren die Bauleitung des Petersdoms in Rom übernahm. Oder Goethe, der mit 73 Jahren seinen Faust II schrieb.

5.
Denk an Deinen Schöpfer, denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse.

Damit ist die eigene Beerdigung gemeint. Der Prediger sagt, zum Zeitpunkt des Predigerbuches war das die Überzeugung: Das eigene Grab ist der Ort, wo man ewig bleibt. Und das Einzige, was einem bleibt, sind die Klageleute, die beim Trauerzug weinen.

6.
Denk an Deinen Schöpfer, ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Und dazu in Spannung eine ganz zarte und zurückhaltende Weise, von einem neuen, ewigen Leben zu sprechen. Das Wort für Auferstehung und die Vorstellung der Auferstehung steht dem Prediger noch nicht zur Verfügung.

Es sind alles Bilder des Todes und doch Bilder der Hoffnung.

Der silberne Strick einer Hängelampe reißt. Aber eine zerrissene Silberschnur ist und bleibt eine Silberschnur. Sie bleibt jenseits von aller Funktionalität wertvoll.

Die goldene Schale für Obst oder Fleisch zerbricht. Aber Gold bleibt Gold. Sie bleibt jenseits von aller Funktionalität wertvoll.

Der Schöpfeimer fällt in den Brunnen. Das Rad zerbricht, über das das Seil lief, um Wasser aus dem Brunnen hochzubringen. Er ist also verloren. Und doch ist es eine Art Zurückkehren. Wie beim Lebensatem des Sterbenden. Gott hatte den Lebensatem gegeben. Jetzt nimmt Gott diesen Lebensatem wieder zurück und wieder zu sich.

7.
Denk an Deinen Schöpfer, es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel. Wörtlich heißt es: Es ist alles ein Windhauch. Es ist alles sehr schnell vorbei. Es ist alles vergänglich.

 

III.
Die Bedeutung des Predigttextes für uns

Der Text sagt also nicht: ‚Memento mori‘. Er sagt nicht: Bedenke, dass Du sterben musst. Sondern der Text sagt: ‚Memento creatoris‘. Er sagt: Denk‘ an Deinen Schöpfer! Vergiss Deinen Schöpfer nicht! Und denk‘ immer darüber nach, was das bedeutet, dass Gott der Schöpfer, der Erhalter und der Vollender deines Lebens ist!

Dazu jetzt drei Botschaften für uns.

1.
Denk‘ an deinen Schöpfer, wenn du jung bist!

Der Prediger will der Jugend, den sog. Jungen Erwachsenen, die in der Blüte ihres Lebens stehen, nicht das Leben vermiesen oder Freuden verbieten.

Der Prediger will, dass jeder 18-Jähriger oder jede 25-Jährige begreift, ich darf mich freuen, ich darf mich über vieles freuen. Es sind alles Geschenke meines Schöpfers: Wertvolle Geschenke, die ihren Wert haben, auch wenn sie vergänglich sind.

Der Prediger will, dass alle jungen Leute mit ihren Händen, Beinen, Augen, Ohren und ihrem Mund Gott dienen, indem sie den Menschen dienen. Auch das heißt es, an den Schöpfer zu denken: Der Prediger würde sagen:

Ihr jungen Leute, benutzt eure Hände, um nach dem Willen Gottes anderen zu helfen.

Ihr jungen Leute, benutzt eure Füße, um nach dem Willen Gottes zu anderen zu gehen oder mit ihnen zu gehen.

Ihr jungen Leute, benutzt eure Zähne, um dankbar zu essen, was der Schöpfer Euch schenkt.

Ihr jungen Leute, schaut mit euren Augen, wie schön und reich er die Welt gemacht, schaut aber auch mit euren Augen, wie verwundet und verletzt die Erde ist, wie verwundet und verletzt die Menschen sind.

Ihr jungen Leute hört mit euren Ohren den Menschen zu! Ihr jungen Leute redet mit eurem Mund zu anderen von eurem Schöpfer, von seinem Sohn, von seinem Projekt mit dieser Welt, von seinem Wesen, seinen Eigenschaften, seinem Tun, seiner Verlässlichkeit…

2.
Denk‘ an deinen Schöpfer, wenn du alt bist und es auf das Ende zugeht!

Er wird nicht schwach. Seine Arme und Hände bleiben stark. Seine Beine bleiben stark. Sein Augenmerk und seine Aufmerksamkeit bleiben Dir. Sein Dir-Zuhören bleibt Dir. Sein Reden bleibt Dir. Sein Trösten bleibt Dir. Sein Helfen bleibt Dir.

3.
Denk daran, dass Dein Schöpfer an Dich denkt und Dich nicht vergisst!

Ich will es mit Psalm 115,12 sagen: Der Herr denkt an uns und segnet uns

 Das heißt: Ihr seid im Gedächtnis, im Kopf, im Herzen Gottes. In Gott, in seinem Kopf, in seinem Herzen ist Euer Platz, Euer Zuhause, Eure Heimat.

Wir sehen das schon im AT, wir sehen das in den Evangelien immer wieder: Jesus lässt Menschen hinein – in sein Gedächtnis, in sein Herz, in seinen Kopf. Und da sind sie gut aufgehoben.

Die Rabbiner sagen: Das Gedächtnis Gottes ist die größte Sicherheit für uns Menschen. Von Gott nicht vergessen zu werden bedeutet alles. Es gibt nichts Besseres.

Das ist auch für unser Beten eine gute Botschaft: Weil Gott an uns denkt, weil er uns nicht vergisst, weil wir in seinem Kopf sind, können wir ganz schlicht beten: Herr, vergiss uns nicht, wir sind alt geworden! Herr, vergiss unsere Kinder und Enkel nicht! Vergiss unsere junge Generation nicht! Vergiss uns in unseren Krankheitsnöten nicht! Vergiss uns nicht in unseren Freuden und in unserem Leid! Vergiss uns nicht, wenn es ans Sterben geht!