Vaterunser IV – Dein Wille geschehe – Von Thomas Pichel

A.
Einleitung (zu Beginn des Gottesdienstes)

1.
Wie schaut die Situation aus, in der wir über das Thema des Willen Gottes nachdenken?

Es gibt – leider! – viele Menschen in Deutschland, die eine Allergie dagegen entwickelt haben, dass ausgerechnet die Kirche (Stichwort Missbrauchsfälle!) ihnen vorschreiben will, wie sie zu denken und zu leben haben. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die Gottesdienste meiden, weil sie wie selbstverständlich annehmen, sie würden sowieso nur zusammengestaucht oder bevormundet werden.

Es gibt nicht wenige Menschen innerhalb der Christenheit, die Gottesdienste besuchen, weil sie wie selbstverständlich annehmen, sie werden von Gott auferbaut und bestätigt.

Es gibt im Blick auf die Frage nach Gottes Willen sehr viel Streit innerhalb der Christenheit, besonders um ethische Fragen.

Und es gibt in christlichen Werken und Gemeinden im Blick auf die dritte Vaterunser-Bitte Machtmissbrauch. Die Stichworte heißen Einheit und Gehorsam. Man soll linientreu sein und konform denken. Man soll alle Entscheidungen und Positionen der Gemeinde(leitung) akzeptieren. Jedes eigene Wollen und Wünschen wird verdächtigt.

Wir merken: Unser heutiges Thema ist ein gefährdetes und gefährliches.

2.
Wie schaut es in unseren Herzen und Köpfen im Blick auf diese Bitte aus?

Wir sollen in Gottes Willen einwilligen, indem wir Gottes Willen tun! Siehe z.B. Mt 7,21: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die, die den Willen tun meines Vaters im Himmel“. Und wir sollen in Gottes Willen einwilligen in dem Sinn, dass Gott seinen Willen in unserem Leben geschehen lässt, also umsetzt und durchsetzt.

Bei wem hat diese Vaterunser-Bitte noch nie Ängste und innere Widerstände ausgelöst? Wer von uns hat da noch nicht nach Luft geschnappt, weil die Luft für ihn dünn wurde? Und zwar unabhängig davon, ob wir Gottes Willen tun oder Gottes Fügungen und Führungen annehmen sollten.

Wie geht es uns mit folgendem Ideal? Den „eigenen Willen unterdrücken, sich unbegreiflichem Schicksal demütig ergeben, sich einem unerforschlichen Willen Gottes beugen, Unheil hinnehmen“ (Werner Grimm, Die Motive Jesu, S.63).

Wie wirkt sich diese Bitte auf unser Beten aus? Das Ganze klingt nach: Ich darf um alles bitten. Aber am Ende geht es nicht nach meinem Willen. Ist es da nicht besser, die Erwartungen gleich herunterzufahren?!

3.
Wir können uns aber auch fragen: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, dass ich mich gegen mein Unbehagen auf diese Vaterunser-Bitte einlasse, in sie einstimme und dieses Anliegen Jesu mittrage und beherzige?

Voraussetzung 1: Wir müssen gewisse, nämlich ernüchternde Erfahrungen mit unserem eigenen Willen, Wollen und Wünschen gemacht haben.

Voraussetzung 2: Wir müssen positive Erfahrungen mit Gottes Willen gemacht haben. Wir müssen ihn kennen. Wir müssen von seiner Liebe überzeugt sein.

 

B.
Predigt

I.
Wie verstand der Jude Jesus diese Bitte?

 Der alttestamentliche Hintergrund dieser Bitte ist die Verkündigung Jesajas in Jes 40-55. Was war die geschichtliche Situation?

„Israel scheint am Ende. Jerusalem ist von babylonischen Truppen zerstört, der Tempel entweiht und außer Betrieb. Viele Familien, vor allem der high society, sind an verschiedene Orte Mesopotamiens verschleppt. Der traditionellen Rechte beraubt, immer wieder den harten Griff des Staatsapparats spürend, sitzen sie oft an den Wassern Babels und weinen (Psalm 137)… Schon ducken sie sich vor dem neuen Großkönig, der auf dem Anmarsch ist… Ein persisches Weltreich wird das babylonische ablösen. Neue Ängste: Wie wird der Perser mit den ethnischen Minderheiten umgehen? Sind wir eigentlich mehr als ein Spielball, hin- und hergetreten zwischen den Großmächten? … In diese Stimmung hinein tritt ein Prophet auf und verkündigt die frohe Botschaft von einem Heilsplan des Gottes Israel, der noch immer Herr der Geschichte sei. Und so sieht dieser Plan aus: Wenn Kyros das babylonische dem persischen Reich einverleibt hat, wird er die Verbannten Israels heimkehren lassen, ja die Erlaubnis zum Wiederaufbau der Städte Judas und vor allem des Jerusalemer Tempels geben! Ja, der Heilsplan umfasst noch mehr: das Heil aller Völker! Gottes ‚Idee‘ ist es, dass die Völker von der guten Gesellschaftsordnung des JHWHvolkes so angezogen werden, dass sie, überzeugt und begeistert, selbst in den Heilsbereich des alleinzigen Gottes drängen. Werner Grimm, Die Motive Jesu, S.65

Ich beschränke mich auf eine Bibelstelle. Gott sagt in Jes 46,10f. „Ich habe vor Anfang der Dinge im Voraus den Ausgang verkündigt, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Mein Plan steht fest. Mein ganzer Wille wird geschehen. Ich rufe vom Sonnenaufgang den Stoßvogel, aus fernem Land den Mann meines Plans. Ich führe herbei, was ich gesprochen habe. Ich vollbringe, was ich mir ausgedacht habe.“

Die Logik lautet: Gott will helfen und befreien. Gott will eine gute Zukunft. Gott will das Glück und das Heil für Israel und die Völker.

Die Logik lautet: Gott hat im Himmel einen Heilsplan für diese Welt gefasst. Dieses Drehbruch ist beschlossene Sache. Alles ist fix. Alles steht unerschütterlich fest. Und Gott wird seinen Master-Plan auf Erden umsetzen und durchsetzen. Siehe auch 1 Makk 3,60!

Noch einmal, weil es so wichtig ist für unser Beten. „Gott fasste ‚im Himmel‘ einen Beschluss, der gilt; nun muss er ihn ‚auf der Erde‘ in geschichtliche Wirklichkeit und Erfahrbarkeit umsetzen.“ Werner Grimm, Die Motive Jesu, S.64.

Verstehen wir, was Jesus mit der Bitte im Kern meint? Dein Wille geschehe heißt: Unser ‘Raus aus Babylon’ geschehe! Unser ‘Heim nach Israel’ geschehe! Das heißt:  Vater, Dein Heilsplan geschehe! Unsere Zukunft geschehe! Unsere Freiheit geschehe! Unsere Erlösung geschehe! Das, was Gott beschlossen hat, geschehe. Für uns! Für die Menschen! Für die Schöpfung!

Jesus will, dass wir den Vater bitten:

Setze bitte Deinen Heilswillen überall auf dieser Erde durch! Bringe bitte die Geschichte, die so voller Fragen und Nöte ist, die so voll Blut und Tränen ist, in Ordnung und zum Ziel.

Die Bitte ist sehr ermutigend, wenn wir in der Hand fremder Herren sind. Herr, bitte! Befrei uns! Bring uns zurück!

Wir halten als Ergebnis fest: Glauben heißt hier, dass wir dem Heilsplan Gottes und allen damit verbundenen Verheißungen Gottes Glauben schenken!

 

II.
Dein Wille geschehe und die Frage: Was soll ich tun?

1.
Bevor wir fragen, was wir tun sollen, müssen wir eine biblische Botschaft unterstreichen und betonen.

Gott liegt sehr viel daran, „dass wir uns in eine bestimmte Richtung entwickeln, dass wir so werden, wie er uns gewollt hat, dass wir in einer ganz bestimmten Beziehung zu ihm… und auch zu unseren Mitmenschen stehen“ (C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ, S.133)

Was ist die Mitte des Willens Gottes für unser Leben? Was ist sein zentrales Wollen mit uns und für uns? Gott will, dass wir mit ihm leben (Mk 3,14), dass wir Jesus nachfolgen (Mt 9,9; 1 Ptr 2,21) und dass wir in der Gemeinschaft mit ihm (1 Kor 1,9) und durch die Kraft des Heiligen Geistes verändert werden (Phi 2,5; 3,10), dass unser alter Adam und unsere alte Eva sterben (Rö 6,3f), dass wir Jesus ähnlich werden (Rö 6,4; Rö 8,29; 2 Kor 5,17) Eph 4,24; 5,1; Kol 1,28; 3,9f).

Wenn wir das klar haben und klar sehen, können und sollen wir laut Bibel uns mit der Frage befassen, was Gott im Einzelnen von uns will.

2.
Ich lese jetzt ein paar Bibelverse vor, die uns Gottes Willen veranschaulichen. Die Auswahl folgt der Gewichtung, die die jüdische Bibel und Jesus vornehmen.

„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5 Mo 6,4-5)

 „Du sollst deinen Nächten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr“ (3 Mo 19,18b)

Suchet der Stadt Bestes!“ (Jer 29,7)

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott!“ (Mi 6,8)

Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“ (Hos 6,6).

Lasst nicht “das Wichtigste im Gesetz beiseite: nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben“ (Mt 23,23)

3.
Dazu kommen die Aussagen Jesu, die auch im Blick auf das AT völlig einzigartig sind. Jesus sagt z.B.:

Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!” (Mt 4,17)

“Glaubt an Gott und glaubt an mich!” (Joh 14,1)

Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde!“ (Mt 5,44)

„Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker!“ (Mt 28,19)

Wir halten als Ergebnis fest: Glauben heißt hier: Dass wir tun, was Gott gebietet, was Gott von uns will.

  

III.
Dein Wille geschehe und die Frage: Herr, was machst Du mit mir?

1.
Jetzt müssen wir uns (endlich) mit dem traditionellen Verständnis der Vaterunser-Bitte befassen. Wir sagten zu Beginn: Wir verstehen von Haus aus diese Bitte so: Den „eigenen Willen unterdrücken, sich unbegreiflichen Schicksal demütig ergeben, sich einem unerforschlichen Willen Gottes beugen, Unheil hinnehmen, was vielleicht abzuwenden gewesen wäre“ (Werner Grimm, Die Motive Jesu, S.63).

Wie wirkt sich dieses Verständnis auf uns aus? Wir haben oft Angst vor dem Willen Gottes. Wir stufen ihn als schwierig und schwer ein. Wir fürchten, dass wir leiden müssen.

2.
Ich will Ihnen nun 5 Impulse zum Umgang mit dieser Vaterunser-Bitte geben. Sie verstehen sich als Hilfe zum Selberdenken und als Hilfe für Euer Gespräch mit unserem Herrn, weil jede und jeder von uns eine selbst verantwortete Position finden muss.

Impuls 1: Ich habe zwei Leitplanken, an denen ich mich orientiere. Die eine Leitplanke ist der Wille Jesu, dass ich wie der blinde Bartimäus in Mk 10,51 ihm sagen soll, was er für mich tun solle. – Die andere Leitplanke ist ein Satz von Fulbert Steffensky: „Ich wünschte, wir würden lernen, wenigstens gelegentlich von Gott nichts zu wollen.

Impuls 2: Ein Schlüsselerlebnis war und ist für mich die Begegnung mit der Oma von drei Jugendfreunden in den 1980er Jahren. Oma Schricker sagte mir einmal: Weißt Du, Thomas, 1934 war mein Sohn todkrank. Ich habe ein halbes Jahr die Bitte: „Dein Wille geschehe!“ ausgelassen. Ich konnte und wollte sie nicht beten. Ich glaube, Gott war das lieber, als wenn ich sie gebetet hätte. Es wäre eine Lüge gewesen. Ich habe das seitdem nie mehr vergessen. Das hat mir eine gewisse Freiheit gegeben. Ich traue mich auch, diese Bitte auszulassen.

Impuls 3: Aber ich traue mir nicht mehr zu 100%. Im Rückblick auf manche Entscheidungen, wo ich meinen Willen durchsetzte, im Rückblick auf manche Weggabelung in meinem Leben, wo ich meinen Willen bekam, sage ich heute: Ich bin nicht die hellste Kerze auf meiner Geburtstagstorte. Manche Dinge, die ich unbedingt wollte, haben sich in meinem Leben im Nachhinein als problematisch herausgestellt. Ich habe mir mit meinem Willen des Öfteren eine blutige Nase geholt. Im Ausblick auf die Zukunft, auf manche Entscheidungen und Weggabelungen, die vor mir liegen, sage ich deshalb: Ich bin nicht der, der am besten weiß, was gut ist. Ich bin im Blick auf Gott eher drei und vier Jahre alt. Ich erzähle – wie ein Drei- oder Vierjähriger seinen Eltern – meinem Vater im Himmel meine Wünsche. Manchmal entscheidet Gott anders als ich. Zum Glück! Zum Wohl für mich und andere! Das heißt: Ich habe ein Grundvertrauen in Gottes Willen.

Impuls 4: Es gibt in der Bibel viele Texte und Geschichten von Menschen, die vor der Frage stehen, wie sie mit dem Willen Gottes umgehen.

Diese Texte helfen mir sehr, mich zu orientieren. Ich skizziere ein paar kurz:

Maria erfährt, dass sie ein Kind vom Heiligen Geist bekommen werde. Maria ist in der Lage, den Willen Gottes, der in ihr junges Leben dramatisch eingreift und es zu zerstören droht, sofort zu bejahen. Sie sagt: Mir geschehe, wie du gesagt hast (Luk 1,38). Ich frage mich: Warum konnte sie das?

Jesus sagt in Joh 4,34: Meine Speise ist es, den Willen Gottes zu tun. Und Jesus sagt in Mt 11,29: Nehmt auf euch mein Joch… So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Siehe auch Hebr 10,35f! Das ist die Frage an mich, ob ich das glauben will: Den Willen Gottes zu tun, schenkt Erfüllung und Zufriedenheit.

Paulus akzeptiert nicht sofort seine Krankheit. Er schreibt in 2 Kor 12,8 und 9: Ich habe dreimal deswegen zum Herrn gefleht. Aber er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen. Das heißt: Ich muss mich nicht in jedes Schicksal fügen.

Jesus hat Angst, den Weg, den Gott für ihn will, zu gehen. Er betet: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39).

Impuls 5: Damit sind wir beim vielleicht entscheidenden Punkt. Die Angst vor Gottes Willen gehört ins Gebet, ins Gespräch mit Gott (und Freunden).

(1) Ich spreche mit Gott über die biblischen Texte.

Z.B. über das Buch der Sprüche Salomos. Da gibt es die tiefe Weisheit. Es tut gut, den Willen Gottes zu praktizieren.

Z.B. über viele Psalmen. Da klagen Menschen. Sie fragen (z.B. in Psalm 13) “Warum?” oder “Wie lange?” Da sind Menschen nicht einverstanden mit dem Willen Gottes – und Gott akzeptiert ihr Ringen. Er kritisiert sie nicht dafür.

(2) Eine Liedzeile von Dietrich Bonhoeffer hilft mir: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand“.

Das mit der Dankbarkeit und dem Ohne Zittern weiß ich nicht, ob ich das schaffe. Aber eines weiß ich: Es ist die Hand meines Vaters. Nicht die Faust eines blinden Schicksals! Nicht die Kralle des Teufels!

Wir halten als Ergebnis fest: Glauben heißt hier, dass wir in etwas einwilligen, was geschehen ist oder geschehen soll, dass wir zu Gott sagen: Mein Leben darf anders sein, als ich es mir wünsche. Du darfst anders sein, Herr, als mein Glaube es Dir erlauben will. Ich überlasse mich Dir.