Jesaja 5,1-7 – Was fangen wir mit diesem erschütternden Liebeslied an? – Von Thomas Pichel

1 Erlaubt mir, dass ich singe von meinem lieben Freund, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe 2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.

 3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! 4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf hoffte, dass er gute brächte?

 5 Erlaubt mir, dass ich euch wissen lasse, was ich mit meinem Weinberg tun will! Seine Hecke soll weggenommen werden, dass er kahlgefressen werde. Seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich habe ihn zur Verwüstung freigegeben. Er wird nicht beschnitten noch gehackt werden. Disteln und Dornen sollen dagegen in ihm wachsen. Und ich werde den Wolken Befehl geben, keinen Regen mehr auf ihn fallen zu lassen.

 7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da ist Rechtsbruch, er wartete auf Gerechtigkeit, siehe, da ist über Schlechtigkeit.

 

A.
Teil 1 der Predigt: Eine kurze biblische ‘Weinkunde’ zum besseren Verständnis

I.
Wein spielt im normalen Leben in Israel eine große Rolle

1.
Weinberg und Wein gehören im AT zu den sieben Segnungen, die Gott seinem Volk mit dem Gelobten Land schenkt. Die sieben Geschenke sind nach 5 Mose 8,13: „Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel, Ölbäume und Honig“.

Wein ist neben Brot und Öl Hauptnahrungsmittel im alten Israel. Dementsprechend oft finden sich die Worte Wein (56x im AT; 17x im NT) und Weinberg (33x im AT; 15x im NT) in der Heiligen Schrift.

Übrigens: Schon im 3. Jahrtausend war im Mittelmeerraum Wein ein Exportschlager.

2.
Der Weinberg ist in Israel der Inbegriff des Ortes, an dem der Mensch arbeitet und seinen Lebensunterhalt verdient. Jeder wusste in Israel: Wein ist und bedeutet Arbeit.

3.
Wir erfahren durch das Neue Testament, dass Wein auch zu medizinischen Zwecken eingesetzt, z.B. zur Wundversorgung (Luk 10,34) und bei Magenproblemen (1 Tim 5,23) eingesetzt wurde.

4.
Die Bibel kennt das Problem der Trunkenheit (Eph 5,18). Der Landwirt Noah war laut 1 Mose 9,20f der erste Weinbauer, aber auch der erste Betrunkene.

 

II.
Weinberg und Wein spielen in der Bibel im übertragenen Sinn eine große Rolle

1.
Weinberg und Wein symbolisieren im Judentum eine gelingende, gute und glückliche Gemeinschaft. Wein symbolisiert irdischen Frieden und Lebensfreude. Der Weinberg ist der Ort des Gesanges (siehe Jes 16,10).

2.
Weinberg und Wein symbolisieren die Liebe zwischen Mann und Frau; im Hohen Lied gibt es 12 Weinberg- und Wein-Anspielungen auf die erotische und sexuelle Liebe (siehe Hhl 1,2; 2,4; 2,13-15; 2,15; 4,10; 5,1; 6,11; 7,9; 8,11; 8,12).

3.
Durch das sog. Weinberg-Lied Jesajas wurde neben dem Feigenbaum der Weinberg zum Symbol für Israel und für das Verhältnis Gottes zu seinem Volk.

4.
Weinberg und Wein gelten im AT als ein wichtiges Kennzeichen der kommenden messianischen Freuden- und Friedenszeit. Wenn der Messias da sein werde, so der Glaube, gibt es so viel Weinstöcke im Land, dass man sogar Esel an Weinstöcken festbinden kann. Das ist die Verheißung aus 1 Mose 49,11. Wenn das Reich Gottes da sein werde, werden die Erlösten Freudenfeste mit besten Weinen feiern. Das geht auf Jes 25,6 zurück.

 

III.
Wein und Weinberglied in der Verkündigung Jesu

1.
Wir könnten jetzt zum Thema Jesus und Wein auf viele Bibelstellen eingehen.

Jesus sorgt auf einer Hochzeit für eine riesige Menge besten Weines (Joh 2,1-11).
Seinen Gegner gilt er als „Weinsäufer“ (Mt 11,19).
Jesus sagt über sich: „Ich bin der wahre Weinstock“ (Joh 15,1)

2.
Jesus greift in zwei Predigten das Weinberglied auf und variiert es.

Jesu Gleichnis „Von den bösen Weingärtnern(Mt 21,33-44; par Mk 12,1-12 u Luk 20,9-19)
33 Hört ein anderes Gleichnis: Es war ein Hausherr, der pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 34 Als nun die Zeit der Früchte herbeikam, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, damit sie seine Früchte holten. 35Da nahmen die Weingärtner seine Knechte: den einen schlugen sie, den zweiten töteten sie, den dritten steinigten sie. 36 Abermals sandte er andere Knechte, mehr als das erste Mal; und sie taten mit ihnen dasselbe. 37 Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 38 Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie zueinander: Das ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen! 39 Und sie nahmen ihn und stießen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. 40 Wenn nun der Herr des Weinbergs kommen wird, was wird er mit diesen Weingärtnern tun? 41 Sie antworteten ihm: Er wird den Bösen ein böses Ende bereiten und seinen Weinberg andern Weingärtnern verpachten, die ihm die Früchte zur rechten Zeit geben. 42 Jesus sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen in der Schrift (Psalm 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? 43 Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt. 44 Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermalmen. 45 Und als die Hohenpriester und Pharisäer seine Gleichnisse hörten, erkannten sie, dass er von ihnen redete. 46 Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen; aber sie fürchteten sich vor dem Volk, denn es hielt ihn für einen Propheten.

Jesu Gleichnis vom Feigenbaum in einem Weinberg (Luk 13,6-9)
6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. 7 Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? 8 Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; 9 vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.

 

B.
Teil 2 der Predigt:

Wir sind um das Jahr 730 vor Christus. Der Prophet Jesaja tritt als Aktionskünstler oder Bänkelsänger auf. Vielleicht zur Zeit der Weinernte auf einem Erntefest. Vielleicht in Jerusalem auf einem der großen Feste. Die Stimmung dürfte bestens gewesen sein. Jesaja stimmt ein Lied an. Keiner ahnt etwas. Das scheinbare Liebeslied entpuppt sich als scharfe Gesellschaftskritik und begründetes Gerichtswort.

I.
Was singt Jesaja?

1.
Die Verse 1-2:

Jesaja singt von seinem Freund, der einen kostbaren Weinberg besitzt. Beste Hang-Lage. Den ganzen Tag Sonne. Bester Boden. Edelreben. Beste Voraussetzungen also.

Er singt von der Fürsorge seines Freundes für seinen geliebten Weinberg. Im Hebräischen sind die Tätigkeiten auf eine interessante Weise erzählt. Ein Wort für das Umgraben. Zwei Wörter für das Entsteinen. Drei Wörter für das Anpflanzen der Reben. Vier Wörter für den Bau eines Turmes zur Abwehr von Vögeln und Dieben. Nichts ist dem Freund zu schwer oder zu viel. Auch eine Steinmauer mit oben aufliegender Dornenhecke gegen Rinder und Esel bzw. Schafe und Ziegen wird errichtet.

Dann nimmt das Lied eine erste überraschende Wendung. Das eigentlich Unmögliche passiert: Dieser Weinberg mit den besten Voraussetzungen und der besten Pflege bringt keine guten Trauben hervor, sondern schlechte; wörtlich heißt es: „Stinkzeug“, also übelriechende Trauben voller Fäulnis.

2.
Die Verse 3-4

Das Lied nimmt eine zweite Wendung: Jetzt redet der Weinbergbesitzer selbst. Und das Publikum, das bis jetzt nur zugehört hat, wird in die Rolle des Richters gedrängt. Es soll mit gesundem Menschenverstand und Gewissen den Fall entscheiden. Der Weinbergbesitzer klagt: Er habe doch nach allen Regeln der Kunst den Weinberg angelegt, bearbeitet und ausgestattet. Er habe doch alles Nötige und Mögliche getan. Er habe sogar schon im Steinboden die Kelteranlage ausgehauen und vorbereitet. Und doch sei das Ergebnis rätselhaft und zwar rätselhaft miserabel und frustrierend. (Die alte Frage: Woher kommt das Böse?)

Wieder ist es hohe sprachliche Kunst: Die Arbeit des Weinbergbesitzers in den Versen 1-2 wird mit I- und E-Lauten beschrieben, die hell klingen und so dessen Fröhlichkeit widerspiegeln. Die Worte in den Versen 3 und 4 sind in dunklen A- und U-Lauten verfasst, die die Trauer des Weinbauern hörbar machen.

Und noch etwas ist auffällig: Die Zuhörer werden zu einem Richterspruch aufgefordert, ohne dass ihr Entscheid abgewartet wird. – Wobei die Antwort klar ist. Die Zuhörer Jesajas hätten auf schuldig plädieren müssen und damit sich selbst verurteilt.

3.
Die Verse 5-6

Es kommt zu einer dritten Wendung im Lied. „Der Besitzer des trügerischen Weinbergs will nicht ur-teilen, sondern mitteilen“ (Roland Gradwohl, Bibelauslegung aus jüdischen Quellen, Band 2, S.129). Als Eigentümer des Weinbergs kann er mit seinem Eigentum tun und lassen, was er möchte. Obwohl der Weinberg seine Freude, seine Leidenschaft und Liebe ist, überlässt er den Weinberg sich selbst. Die Grenzen, also Steinmauer und Dornenhecke, werden nicht ausgebessert. Es entstehen Lücken. Es ist eine Frage der Zeit, bis Ziegen und Schafe die Reben fressen. Es ist eine Frage der Zeit, bis Rinder alles niedertrampeln. Die nötige Pflege im Innern bleibt aus. Die Reben werden nicht mehr geschnitten. Es ist eine Frage der Zeit, bis alles verwildert. Und der Regen von oben bleibt aus. Das fehlende Wasser bedeutet das endgültige Aus des Weinbergs.

4.
Der Vers 7

Mit dieser Aussage nimmt das Lied eine letzte Wendung. Wer kann denn Wolken Befehle geben? Den Zuhörern wird schlagartig klar, was sie inzwischen ahnen: Der enttäuschte und zornige Weinbauer ist Gott selbst. Und sie sind der geliebte und so enttäuschende Weinberg. Und Recht und Gerechtigkeit sind die guten süßen Früchte, die Gott erwartet hat und erwartet und immer erwarten wird. Aber stattdessen gibt es im Land überall Rechtsbruch und Unrecht. Stattdessen hört Gott im ganzen Land das Geschrei von Bedrängten, Unterdrückten und Entrechteten. Es ist wie damals in Ägypten. Es heißt in 2 Mose 3,7: „Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volk… gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.

Wir wissen aus der Geschichte Israels, dass Jesaja mit der Erstaufführung seines Liedes das Volk und insbesondere die Führungsschicht nicht zur Kehrtwende motivieren konnte. Was er angekündigt hatte, trat ein. 722 ging das Nordreich namens „Israel“ unter; 586 das Südreich namens „Juda“, als die dunkle Zeit der sog. Babylonischen Gefangenschaft anbrach.

Und doch wurden das Weinberglied und alle anderen Worte Jesajas im Nachhinein sehr wichtig. Das Judentum konnte dadurch die eigene Geschichte und das Handeln Gottes verstehen und verarbeiten.

 

II.
Was wollte Jesaja seinen Zuhörern begreiflich machen? Was hat Israel im Laufe der Zeit gelernt? Was sollen wir begreifen?

1.
Jesaja erinnert seine Hörer, dass sie von Gott reich beschenkte Menschen sind.

Gesegnet und beschenkt mit Taten, Wohltaten, Hilfstaten, Segenstaten und Rettungstaten.

Gesegnet und beschenkt mit guten, wichtigen und verlässlichen Worten, durch die Gott uns gibt, was wir benötigen an Orientierung, Halt, Kraft, Trost und Hoffnung.

Gesegnet und beschenkt mit guten Ordnungen, die dem Leben dienen, die unserem gemeinsamen Leben dienen, die der Lebensfreude und dem Frieden dienen. 

2.
Jesaja hält seinen Hörern einen Spiegel vor Augen. Israel begriff damals: Als gesegnete und beschenkte Menschen haben wir Gott traurig gemacht und enttäuscht. Wir haben seine Erwartungen nicht erfüllt. Gott erwartet von seinen Leuten „Recht und Gerechtigkeit“. Aber wir haben den Segen, die Gaben, die Wunder, die Erfahrungen, die Gnade missbraucht.

3.
Jesaja klärt seine Hörer auf. Gott ist in seinem Zorn zu einem Gerichtshandeln bereit.

a.
Zorn Gottes heißt nicht, dass Gott beleidigt oder gekränkt wäre. Gottes Zorn ist keine blinde Wut, keine eiskalte Rache. Gottes Zorn ist seine verletzte Liebe.

Ich bin immer verwundert, wenn Menschen den Zorn Gottes abschaffen wollen! In jeder echten Liebe gibt es Zorn. Wer nicht zu Zorn fähig ist, liebt nicht. Ein Mensch, dem der andere und die Beziehung nicht egal sind, ist zu Zorn fähig. Die Frage ist nur, wie mir mit unserem Zorn umgehen und was wir im Zorn tun!

Zorn bei Gott ist keine Willkür, sondern eine Art Not-Operation an einem todkranken Organismus, um einen Menschen oder eine Gesellschaft zu retten. Zorn Gottes ist sein Versuch (ultima ratio), eine Gesellschaft oder einen Menschen vor dem Bösen zu bewahren bzw. daraus zu retten.

b.
Wogegen protestierte Gott? Worüber hielt er Gericht?

Hier einige Schlaglichter zum Nachdenken:

Es gibt sehr viele im Land, die schreien. Wer schreit, kann sich nicht freuen, hat keinen Frieden.
Es gibt einen Riss in der Gesellschaft: Die einen feiern den ganzen Tag ihr schönes Leben, trinken edle Weine, trinken viel zu viel. Andere dagegen müssen viel zu viel weinen.
Es gibt sehr viele, die keinen Respekt vor dem Leben, keinen Respekt vor dem Leben der anderen haben.
Das Böse ist ansteckend. Überall lauter Pharaos, große und kleine, tatsächliche und Möchtegern-Pharaos.
Es gibt eine merkwürdige gespaltene Einstellung gegenüber Gott: Man ist gottgläubig. Aber man lebt die Überzeugung: Gott kommt uns nicht in die Quere. Man ist voller Spott gegen mahnende Stimmen, die das Thema Gericht wachhalten.

Ihr müsst einmal das Kapitel 5 im Jesaja-Buch lesen. Es sind Beispiele, die uns erschreckend vertraut vorkommen: (1) Haus- und Bodenspekulanten bringen in Not geratene Menschen um Hab und Gut (5,8). Großgrundbesitzer haben in der Politik und im Rechtswesen das Sagen. (2) Wer es sich leisten kann, lebt in seiner eigenen schönen Welt und feiert rauschende Feste (5,11f) und vernachlässigt seine Verantwortung für die Gesellschaft. (3) Wer die wirtschaftliche oder politische Macht hat, bestimmt, was richtig und rechtens ist. (4) Man stellt, um eigene Interessen durchzusetzen, verbindliche Werte auf den Kopf, verdreht die Wahrheit und hält sich selbst für den Maßstab (5,20) (5) Für das Thema Gericht hat man nur Spott und Hohn übrig (5,19). Dass Gott in den Alltag, in das Leben, in die Geschichte eingreift, kann man sich nicht vorstellen. Man ist sich sicher: Gott kommt uns nicht in die Quere.

c.
Was tat Gott damals in seinem Zorn? Wie schaute sein Zürnen aus?

Gott stellte seine Schutzmaßnahmen (Mauer und Hecke) ein. Er stellte seine Pflege (Beschneiden) ein. Und er stellte seine Fördermaßnahmen (Regen) ein. Israel war ohne Gottes Schutz, Pflege und Segen den Feinden, den zerstörerischen Kräften des Lebens ausgeliefert. Die Folge davon war: Israel verlor das, was Gott geschenkt hatte: Land, Tempel, Freiheit, das gutes Leben.

4.
Was hat Israel damals lernen müssen? Was müssen wir lernen?

Ich deute das einmal an. Wir müssten über jeden Satz nachdenken und miteinander sprechen.
Wir besitzen Gott nicht. Wir haben Gott nicht. Wer meint, Gott zu haben, glaubt an einen Götzen.
Wir haben kein Recht und keine Garantie auf Glück, auf Segen, Wohlstand, Wohlleben, Erfolg…
Gnade ist kein Gesetz. Vergebung ist nicht Gott Metier. Er muss uns nicht vergeben.
Glaube schützt nicht vor dem Gericht.
Gott erspart uns das Leiden nicht.

5.
Die Erfahrung mit Gottes Zorn bestand also darin, dass Gott sein Volk sich selbst überließ und dass seine Leute deshalb sehr viel verloren haben. Das ist eine erschütternde Wahrheit. Aber auch eine missverständliche und gefährliche. Wir dürfen das nicht verallgemeinern. Sonst wird alles schief und verkehrt.

Nicht jedes Leiden ist eine Zorn-Erfahrung. Nicht jeder Verlust von etwas Wertvollem ist eine Zorn-Erfahrung. Aber Jesaja 5 sagt uns, dass es so sein kann. Das macht unsicher. Damit sind wir beim letzten Punkt der Predigt.

III.
Was machen wir mit diesem erschütternden Liebeslied?

Ich stelle nun meinem Umgang damit vor. Vielleicht darf er Ihnen bzw. Euch helfen!

1.
Ich gehe mit diesem erschütternden Liebeslied ins Gebet, ins Gespräch mit Gott. Mein Ansatz dabei lautet: Herr, ich denke an Deinen Zorn, ich denke darüber nach.Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit!“ (Psalm 25,6)

Herr, ich habe einen Buchtitel vor Augen: „Gott ist nicht nett“.  Ich denke an den Satz: „Gott ist kein Kuscheltier!“ Herr, ich erinnere mich sinngemäß an C.S. Lewis: ‚Gott hat scharfe Ecken und raue Kanten. Er ist kein Traum-Möbelstück, an dem man sich nie stößt‘. Ich erinnere mich sinngemäß an eine Predigt: „Zorn Gottes macht unsicher, bedeutet Unsicherheit. Wir fragen uns zwangsläufig: Was passiert da mit mir?“

2.
Was hilft mir in dieser Unsicherheit? Mir helfen die Antworten meines himmlischen Vaters durch seine Worte in der Bibel!

Z.B. Jes 54,8: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“.

„Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi“ (1 Ptr 1,13)

Mir hilft dabei die Botschaft von der Gnade Gottes!

 (1)
Die Gnade ist schon in unserem Predigttext versteckt. Der Weinberg bleibt der Weinberg Gottes. Gott verkauft den Weinberg nicht. Er gibt ihn nicht her. Es heißt am Ende in Vers 7: „Seine Pflanzung“, an der sein Herz hängt. „Seine Pflanzung“, die seine große Liebe ist. „Die Pflanzung seiner Freude!“ Seine Liebe hört also nicht auf!

(2)
Die Gnade gibt es im Jesaja-Buch in einem zweiten Weinberg-Lied. Es steht in Kapitel 27: Darin heißt es: 2 Zu der Zeit wird es heißen: Lieblicher Weinberg, singet ihm zu! 3 Ich, der HERR, behüte ihn und begieße ihn immer wieder. Damit man ihn nicht verderbe, will ich ihn Tag und Nacht behüten. 4 Ich zürne nicht. Sollten aber Disteln und Dornen aufschießen, so wollte ich über sie herfallen und sie alle miteinander anstecken, 5 es sei denn, sie suchen Zuflucht bei mir und machen Frieden mit mir, ja, Frieden mit mir.

 (3)
Die uns in Jesus Christus angebotene Gnade ist die Mitte der Mitte der biblischen Botschaft. Wir sagten: Der Weinberg ist Israel, das Volk Israel, das Judentum. Gott hat in diese seine Pflanzung ca. 750 Jahre nach Jesaja das Kreuz Jesu und das leere Grab Jesu gesetzt. Seitdem gibt es einen fantastischen Wein aus Israel! Es gibt einen ganz edlen Tropfen bei ihm! Made by God sozusagen. Es gibt für Dich und mich den Wein der Gnade. Jesus sagt: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,27).

Das ist kein Betäubungsmittel gegen die Botschaft vom Zorn. Aber dieser Wein schenkt Frieden im Blick auf den Zorn und überwindet die Angst vor Gott und dem Gericht.

3.
Und ich versuche ein Drittes.

a.
Ich bin ein Mensch, der sich nach dem segnenden Gott sehnt, der den hörenden Gott sucht, der den helfenden Gott braucht. Aber ich begreife durch Texte wie diesem Lied, was Glauben auch ist. „Glauben heißt, sich Gott zu stellen. Es ist die Bereitschaft, nicht nur eine segnende Instanz, sondern auch eine kritische Instanz zu suchen“ (Martin Schleske, Der Klang, S.157).

 Ich oute mich als das, was ich bin: ein Sünder, ein Mensch mit „kleinen, harten, sauren Trauben“, ein Mensch „mit Stinkzeug“. Ich gehe in die Beichte. Ich bitte Gott um Vergebung.

 (1) Herr, ich bitte Dich um Vergebung, wo ich Dich enttäusche und verletze, wo ich missbräuchlich mit Deiner Liebe und Deinem Segen umgehe.(2) Herr, ich bitte Dich um Vergebung für einen Glauben, der nicht in der Liebe tätig ist (Gal 5,6), sondern der in der Gleichgültigkeit untätig bleibt. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die meinetwegen schreien, aber ich weiß um Namen von Menschen, die traurig verstummt sind, weil ich ihnen nicht gerecht geworden bin, weil ich sie allein und im Stich gelassen habe.

In der Vorbereitung der Predigt ist mir in dieser Woche etwas Gutes passiert. Ich habe überlegt, wie ich die Spannung von Zorn und Gnade sagen kann. Da habe ich in meiner Gebetszeit früh am Morgen eine kleine Andacht gehört. Darin zitiert ein Theologieprofessor zwei Verse aus dem Jakobusbrief. Zuerst las er Jakobus 5,9: „Siehe, der Richter steht vor der Tür!“  Dann las er Jakobus 5,11 vor: „Denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer!

Mit dem Weinberglied steht Gott als Richter vor unserer Herzenstür! Aber er ist barmherzig und will sich über uns und unsere Schuld erbarmen!

a.
Zorn heißt nicht, dass Gott beleidigt oder gekränkt wäre. Gottes Zorn ist keine blinde Wut, keine eiskalte Rache. Gottes Zorn ist seine verletzte Liebe.
Ich bin immer verwundert, wenn Menschen den Zorn Gottes abschaffen wollen! In jeder echten Lieben gibt es Zorn. Wer nicht zu Zorn fähig ist, liebt nicht. Ein Mensch, dem der andere und die Beziehung nicht egal ist, ist zu Zorn fähig. Die Frage ist nur, wie mir mit unserem Zorn umgehen und was wir dann im Zorn tun!

Zorn bei Gott ist keine Willkür, sondern eine Art Not-Operation an einem todkranken Organismus, um einen Menschen oder eine Gesellschaft zu retten. Zorn Gottes ist sein Versuch (ultima ratio), eine Gesellschaft oder einen Menschen vor dem Bösen zu bewahren bzw. daraus zu retten.

b.
Wogegen protestierte Gott? Worüber hielt er Gericht?

Ihr müsst einmal das Kapitel 5 im Jesaja-Buch lesen. Es sind Beispiele, die uns erschreckend vertraut vorkommen: (1) Haus- und Bodenspekulanten bringen in Not geratene Menschen um Hab und Gut (5,8). Großgrundbesitzer haben in der Politik und im Rechtswesen das Sagen. (2) Wer es sich leisten kann, lebt in seiner eigenen schönen Welt und feiert rauschende Feste (5,11f) und vernachlässigt seine Verantwortung für die Gesellschaft. (3) Wer die wirtschaftliche oder politische Macht hat, bestimmt, was richtig und rechtens ist. (4) Man stellt, um eigene Interessen durchzusetzen, verbindliche Werte auf den Kopf, verdreht die Wahrheit und hält sich selbst für den Maßstab (5,20) (5) Für das Thema Gericht hat man nur Spott und Hohn übrig (5,19). Dass Gott in den Alltag, in das Leben, in die Geschichte eingreift, kann man sich nicht vorstellen. Man ist sich sicher: Gott kommt uns nicht in die Quere.

Wer schreit, kann sich nicht freuen, hat keinen Frieden.
Die einen feiern den ganzen Tag ihr schönes Leben, feiern, trinken edle Weine, trinken viel zu viel Wein. Andere dagegen müssen viel zu viel weinen.
Kein Respekt vor dem Leben, kein Respekt vor dem Leben der anderen.
Das Böse ist ansteckend. Überall lauter Pharaos, große und kleine, tatsächliche und Möchtegern-Pharaos.
Überzeugung: Gott kommt uns nicht in die Quere. Spott gegen mahnende Stimmen.

Gottes Zorn gilt „dem Sauerteig des Herodes“, dem Menschen, der sich über Grenzen hinwegsetzt, der eine grenzenlose Unmoral lebt. Gottes Zorn gilt dem autonomen Menschen, der über sich nichts mehr anerkennt. Gottes Zorn gilt dem „neuen Mensch(en)“ Nietzsches. Gottes Zorn gilt den „Bösen Geister(n)“ aus dem gleichnamigen Roman Dostojewskis. Gottes Zorn kämpft gegen den gewissenlosen Menschen, der seine eigene Meinung und seine eigenen Interessen absolut setzt, dem die Unterscheidung zwischen Gut und Böse abhandengekommen ist, den keine Moral wirklich bindet, für den alles ein Deal ist, dessen Heiligung aller Mittel für die eigenen Zwecke verheerende Konsequenzen hat. Gottes Zorn ist das grundsätzliche Veto Gottes gegen die Sünde des Missbrauchs und der Pervertierung von Macht. Dabei schaut so aus, dass je mehr Macht ein Mensch hat, desto gefährlicher wird es, desto mehr Opfer gibt es!

c.
Was tat Gott damals in seinem Zorn? Wie schaute sein Zürnen aus?

Gott stellte seine Schutzmaßnahmen (Mauer und Hecke) ein. Er stellte seine Pflege (Beschneiden) ein. Und er stellte seine Fördermaßnahmen (Regen) ein. Israel war ohne Gottes Schutz, Pflege und Segen den Feinden, den zerstörerischen Kräften des Lebens ausgeliefert. Die Folge davon war: Israel verlor das, was Gott geschenkt hatte: Land, Tempel, Freiheit, das gutes Leben.

4.
Was hat Israel damals lernen müssen? Was müssen wir lernen?

Ich deute das einmal an. Wir müssten über jeden Satz nachdenken und miteinander sprechen.

Wir besitzen Gott nicht. Wir haben Gott nicht. Wer meint, Gott zu haben, glaubt an einen Götzen.
Wir haben kein Recht und keine Garantie auf Glück (Segen, Wohlstand, Wohlleben, Erfolg…).
Gnade ist kein Gesetz. Vergebung ist nicht sein Metier.
Glaube schützt nicht vor dem Gericht.
Gott erspart uns das Leiden nicht.

5.
Die Erfahrung mit Gottes Zorn bestand also darin, dass Gott sein Volk sich selbst überließ und dass seine Leute deshalb sehr viel verloren haben. Das ist eine erschütternde Wahrheit.

Aber auch eine missverständliche und gefährliche. Wir dürfen das nicht verallgemeinern. Sonst wird alles schief und verkehrt.

Nicht jedes Leiden ist eine Zorn-Erfahrung. Nicht jeder Verlust von etwas Wertvollem ist eine Zorn-Erfahrung. Aber Jesaja 5 sagt uns, dass es so sein kann. Das macht unsicher. Damit sind wir beim letzten Punkt der Predigt.