Unsere Sehnsüchte. Gottes Sehnsüchte. – Psalm 85 – Von Thomas Pichel

A.
Ein „Plädoyer für die Psalmen(Nicholas Thomas Wright)

1.
Hier einige Stimmen zu dem, was Psalmen uns schenken können:

Billy Graham las täglich 5 Psalmen. Warum? Er antwortete, die Psalmen würden ihm beibringen, wie man mit Gott auskommt.

Martin Luther war überzeugt, dass wir, wenn wir die Psalmen lesen und beten, wenn wir mit ihnen unterwegs sind und leben, uns selbst erkennen. „Du siehst allen Heiligen ins Herz“ (Vorrede auf den Psalter) und du siehst dich selbst im Spiegel.

Rainer Maria Rilke sagte einmal, dass wir in den Psalmen uns alle restlos unterbringen können.

Ich sage: Die Psalmen zu lesen, zu beten, gibt Kraft. Die Psalmen inspirieren. Die Psalmen vermitteln, geben Kraft.

2.
Warum leisten die Psalmen so viel? Warum können sie das? Vielleicht auch deshalb, weil alle menschliche Gefühle und Themen in den Psalmen zu finden sind: Liebe, Angst, Begeisterung, Hass, Trauer, Dankbarkeit, Loben, Sehnsucht, Hoffnung, Anklage, Wut, Zweifel.

3.
Worum geht es nun in Psalm 85? Da tragen Menschen ihre Sehnsüchte zu Gott hin. Da sagen Menschen: Das, was jetzt ist, das ist nicht das, was sein soll. Sie leiden an dem, was los ist bzw. nicht mehr los ist.

Psalm 85 ist ein Lied der Sehnsucht. Dieses Sehnsuchtslied ist ein Weg, den wir betreten und mitgehen dürfen.

Psalm 85 hat drei Teile.

Der erste Teil blickt dankbar und sehnsüchtig zurück in die Vergangenheit.
Der zweite Teil blickt bittend und sehnsüchtig in die schwierige Gegenwart.
Der dritte Teil blickt hoffnungsvoll und sehnsüchtig nach vorne in die Zukunft. Ich lese Psalm 85.

1 Ein Psalm der Söhne Korach, vorzusingen.
2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und alle seine Sünde bedeckt hast; – SELA –
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:

5 hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
damit sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

 

B.

I.
Große Dankbarkeit im Blick auf die Vergangenheit

 1 Ein Psalm der Söhne Korach, vorzusingen. 2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs; 3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und alle seine Sünde bedeckt hast; – SELA – 4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:

Es heißt in der Luther-Übersetzung dreimal „vormals“. Im hebräischen Text steht das gar nicht da. Aber Luther erfasst die Aussageabsicht genial. „Vormals – als Gott gnädig war, Schuld vergeben hat und seinen Zorn hat fahren lassen, vormals, als die Beziehung noch intakt war“ (Alexander Deeg, in: Göttinger Predigt-Meditationen, 75. Jg., Heft 4, S.539).

Wir sehen: Die Verse 1-4 blicken dankbar und sehnsuchtsvoll zurück auf Gottes früheres Tun und Handeln. Wir erfahren nicht, was konkret gemeint ist. Meint der Psalm die Befreiung Israels aus Ägypten, die Rettung am sog. Schilfmeer, die Bewahrung in der Wüste und das Geschenk des Landes? Oder meint der Psalm die Befreiung Israels aus Babylon? Wir erfahren es nicht. Vielleicht ist das Absicht, weil wir uns so leicht in diesen Versen unterbringen können?

Der Psalm erinnert an Wohltaten Gottes, an das gnädige, gütige und befreiende Handeln Gottes. Diese Erinnerungen wecken Sehnsüchte. Herr, du hast uns aufatmen lassen. Lass uns wieder aufatmen. Du hast uns neue Perspektiven geschenkt. Schenk uns wieder neue Perspektiven. Du hast geholfen. Hilf wieder. Du hast befreit. Befrei uns wieder! Dass wir nach vorne schauen können. Dass wir zuversichtlich in die Zukunft gehen.

 

II.
Leidenschaftliche Bitten im Blick auf die Gegenwart

 5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns! 6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? 7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? 8 HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

1.
Der Blick geht im ersten Teil des Psalms zurück in eine gute Zeit, als das Verhältnis zu Gott gut war. Die Gegenwart im zweiten Teil des Psalms ist ganz anders. Die Gegenwart ist schwierig.

2.
Viermal ist in den Versen 4 bis 6 vom Zorn Gottes bzw. von seinem Zürnen die Rede. Dreimal steht in anderen Übersetzungen „Wutschnauben“. Das trifft das hebräische Wort ziemlich gut. Gottes Zürnen ist sprachlich die schnaubende Nase, wobei man dieses Schnauben sehen und hören kann.

(1)
Bevor ich auf die Erfahrung der Beter zu sprechen komme, möchte ich zum christlichen Reden über Gottes Zorn etwas anmerken:

a.
Es gibt in Teilen der Theologie und Kirche ein ungutes Schweigen über den Zorn Gottes bzw. ein ungutes Verschweigen des Zornes Gottes. Man distanziert sich. Man relativiert. Man sagt: ‚Das ist alttestamentlich. Das ist alttestamentarisch‘. Man sagt: ‚Gottes Offenbarung in Jesus Christus enthüllt das Erleben eines zürnenden Gottes als unzutreffend und überholt‘. Ich halte das für falsch. Wobei ich eine Frage dieser Richtung in Theologie und Kirche für berechtigt halte: Wenn ein Christ den Eindruck hat, er erlebe Gottes Zürnen, woher weiß der Betroffene denn, dass er mit seiner Einschätzung richtig liegt? Diese Frage ist für die Seelsorge sehr wichtig.

b.
Es gibt in Teilen der Theologie und Kirche aber auch ein ungutes Reden über den Zorn Gottes. Da wissen Christen immer ganz genau, dass Gott zornig und warum Gott zornig ist und über wen Gott zornig ist. Diese Bescheidwisser wissen immer ganz genau, was falsch läuft, was wir falsch machen. Dabei fällt auf, dass dieses „wir“ doch im Grunde die anderen sind. Ich halte dieses Reden ebenfalls für falsch. Warum? Dieses ungute Reden über Gottes Zorn verdunkelt die Liebe Gottes. Es macht aus Gott eine schizophrene Person, weil der Zorn Gottes auf Kosten der Liebe Gottes geht, weil nicht mehr deutlich ist, dass Gottes Wesen die Liebe ist und sein Zorn ein Handeln aus leidenschaftlicher Liebe ist.

(2)
Ich möchte folgendermaßen über den Zorn der Liebe Gottes reden.

Wir können Gott enttäuschen. Und diese Enttäuschung Gottes kann in Zorn umschlagen. Wenn das nicht so wäre, wären wir Gott egal, wäre Gott eiskalt, würde Gott uns nicht lieben. Denn „kalte Gleichgültigkeit wäre das Ende aller Liebe(siehe Gerhard Lohfink, Die vierzig Gleichnisse Jesu, S.38). Zorn heißt, dass Gott tief getroffen ist. Wie nur Liebe getroffen sein kann.

Zorn Gottes ist nicht eine Grundhaltung Gottes, sondern eine kurze Reaktion Gottes auf etwas, was Gott ablehnt. Zorn Gottes ist ein Handeln Gottes, das etwas beseitigt, was der Liebe, der Güte, der Gerechtigkeit entgegensteht, was das Leben unmöglich macht, womit ich das Leben anderer oder mein eigenes Leben schwer belaste und gefährde. Gottes Liebe hasst alles Unrecht und alle Ungerechtigkeiten. Gottes Liebe steht und kämpft gegen alles Böse. Gott stellt sich aus Liebe gegen mich, wo ich in meiner Fixierung auf mich selbst meine Beziehungen, mein Leben oder das Leben anderer kaputtmache.

Was tut Gott denn, wenn er zürnt? Wenn ich das Zeugnis der Bibel richtig auswerte, würde ich folgende drei Notmaßnahmen Gottes als Antwort auf diese Frage geben:

(1) Gott lässt mich etwas Schmerzhaftes erfahren, erleben, erleiden. Aber wie gesagt: Ich kann nicht behaupten: Immer, wenn ich etwas Schmerzhaftes durchmachen muss, habe ich es mit dem Zorn Gottes zu tun. Man darf das nicht zu einem Prinzip machen, das immer der Fall sein soll, wenn ein Mensch Schmerzhaftes erfährt.

(2) Gott lässt mich Gewissensschmerzen erleiden. Er inspiriert mein Gewissen so, dass ich an einer Schuld leide, so dass ich spüre: Ich bin zumindest mitverantwortlich für meine Situation, oder: Ich bin verstrickt in Schuld und Sünde.

(3) Gott geht auf Distanz zu mir und lässt mir meinen Willen und lässt mich schmerzhaft negative Folgen meines Wollens und Tuns erleiden.

Warum tut Gott das? Aus Liebe!

Wozu tut Gott das? Um gefährdetes Leben zu schützen. Um mein Leben zu schützen. Um meine Beziehungen zu schützen. Um mein Christsein zu schützen, wo es durch mich selbst gefährdet ist. Um mich zur Besinnung, zum Aufwachen, zur Umkehr zu motivieren.

3.
Irgendetwas in diese Richtung muss bei den Betern des Psalms 85 der Fall gewesen sein. Wir erfahren es nicht. Vielleicht ist das Absicht, weil wir uns so gut in diesen Versen unterbringen können? Aber den Verfassern von Psalm 85 dämmert es: Wir haben Gottes Liebe in ihrer Grenzform Zorn erfahren. Aber diese harte Erfahrung Gottes hält sie nicht davon ab, ihre Sehnsucht Gott zu sagen, Gott anzuvertrauen. Und darin sind sie ein Vorbild für uns!

Der Logik nach sagen sie zu Gott: Du bist doch mitverantwortlich für unsere Situation. Kehre du wieder um, Herr! Wende dich wieder uns zu! Sonst können wir nicht zu Dir umkehren! (Im Hebräischen steht zweimal das Wort „schub“ (gesprochen schuv). Das Wort „schuv“ meint umkehren.)

Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns! Anders übersetzt heißt dieser Vers: Stelle uns wieder her, und brich dein Zürnen über uns. 6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? 7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? Anders übersetzt heißt dieser Versteil: Du bist doch eine Quelle der Freude! 8 HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

 

III.
Erlösende Gewissheit im Blick auf die Zukunft

 9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, damit sie nicht in Torheit geraten. 10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; 11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; 12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; 13 dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; 14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

1.
Jetzt redet ein Einzelner. In den ersten zwei Teilen des Psalms spricht ein „wir“. Wir wissen nicht, wer dieser Einzelne ist. Es ist „ein Mensch, der eine Verantwortung spürt. Er spürt: Hier muss doch ein wegweisendes Wort gesagt werden! Er sieht die Gefahr, dass das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, zu einer ganz bestimmten „Torheit“ führen kann. Was ist „Torheit“ in der Bibel? „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott“. Das ist in der Bibel Torheit. Das Gottesschweigen darf nicht zu dieser Torheit, der Torheit der Abwendung von Gott führen, sagt dieser Einzelne und ergreift deshalb das Wort“ (Ulrich Laepple, aa0). Übrigens: Diese Torheit kann sich verschieden äußern und zeigen. Das wäre ein ganz eigenes Thema.

2.
Der, der sich um die anderen sorgt, redet „Sätze mit den leuchtendsten und gewichtigsten, den weitreichendsten und gewaltigsten Heilsworten, die Israel in seiner Geschichte je zur Verfügung gestanden haben“ (Ulrich Laepple, aa0).

Einer redet von seinen Sehnsüchten. Aber auffällig ist, dass seine Sehnsüchte identisch sind mit den Sehnsüchten Gottes: Gottesfurcht, Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden sind das, wonach Gott sich sehnt und wonach der Seelsorger, der hier spricht, sich sehnt. Und die Frage ist schlicht die, ob seine Zuhörer dazu Ja sagen, ob wir dazu Ja sagen. Das ist die große Frage des Psalms 85. Küssen unsere Sehnsüchte die Sehnsüchte Gottes? Kommt es da zu einer Vereinigung, zu einer Einheit?

Ach dass wir doch diesem Psalm und der ganzen Bibel glauben können: Das, wonach Gott sich sehnt, ist in Wirklichkeit das, wonach wir uns alle sehnen: Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden.

3.
Zurück zum Psalm: Die ersten Hörer von Psalm 85, aber auch wir bekommen etwas zu hören und mit den Worten auch etwas zu sehen.

Was für ein Zukunftsbild! Was für eine Perspektive! Güte, Treue, Friede, Gerechtigkeit treten wie eigenständige Personen gemeinsam auf.

Güte, hebräisch chaesaed, meint Solidarität, verlässliches, gegenseitiges Helfen. Jeder bekommt, was er braucht.

Treue, hebräisch aemaet, meint Wahrheit im Sinn von Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit, Gewissheit.

Gerechtigkeit, hebräisch zaedaeq, meint nicht, dass alle das gleiche bekommen, meint auch nicht juristische Gerechtigkeit, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden; diese Gerechtigkeit meint im Kern Barmherzigkeit, Einsatz für die Schwachen und die Gemeinschaft, in der man lebt, meint Integration derer in ein gutes Leben, die kein gutes Leben führen können.

Frieden, hebräisch shalom, meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern dass ein Mensch in all seinen Beziehungen und Lebensthemen umfassend genug hat und gut leben kann.

Mich erinnert diese Aufzählung, dieses Bild an Martin Luther King. I have a dream!

4.
Ich rufe uns zum Schluss der Predigt auf: Träumen wir diesen Traum mit! Leben wir für diesen Traum! Wie geht das?

(1)
Verdrängen wir nicht länger das Thema des Zornes Gottes. Suchen wir erst recht Gott, wenn wir den Eindruck haben, wir haben Gottes Zorn erlebt.

(2)
Fürchten wir Gott! D.h. nehmen wir ihn ernst! Nehmen wir ihn froh! Geben wir ihm immer das entscheidende Gewicht! Glauben wir, dass Gott immer und in allem immer das größte Gewicht hat!

(3)
Sagen wir Gott unsere Sehnsüchte! Nach Hilfe! Nach dem Ende der Corona-Zeit! Nach einem guten Leben! Nach einer Wende in einer privaten oder beruflichen Notsituation!

Ehren wir Gott, indem wir zu ihm sagen: Du allein kannst unsere Sehnsüchte stillen! Unsere Sehnsucht nach Liebe, nach Frieden, nach Trost, nach… Aller Augen warten auf Dich, Herr! Amen!

(4)
Stellen wir uns Gott zur Verfügung! Sagen wir ihm: Herr, ich will ganz anders in Zukunft für Deine Sehnsüchte leben!

Reihen wir uns ein in die Demo Gottes! Es heißt ja im Text: Gerechtigkeit geht vor Gott her. Gerechtigkeit folgt Gott. Güte und Treue begleiten Gott. Damit Frieden werde!

Machen wir es wie Gott! Sagen wir anderen vom Frieden Gottes! Sagen wir anderen den Frieden Gottes zu! Bringen wir etwas Frieden in diese friedlose Welt!