Lukas 6,36 – Unser Vater ist barmherzig – Von Thomas Pichel

A.
Einleitung

1.
Eine Pfarrerin fragt in einem Gottesdienst: „Wer ist auf Barmherzigkeit angewiesen? Wer hat es nötig, mit Barmherzigkeit und Liebe angesehen zu werden?

Ein leicht behindertes Mädchen meldet sich. Es ist die einzige Person, die den Finger hebt. Das Mädchen schaut sich irritiert und unsicher im Kirchenschiff um.

Die Pfarrerin kommentiert heute, Jahre später, diese Szene so: „Dieses Mädchen war ein großartiger Mensch. Sie hatte etwas für sich erfasst, was sowieso der Fall ist.

Wir alle sind Menschen, die auf Barmherzigkeit angewiesen sind.

Die Frage, die uns die Jahreslosung stellt, ist deshalb die Frage, ob wir das wissen und zugeben oder ob wir das nicht wissen bzw. unser Wissen bekämpfen, weil wir nicht auf Barmherzigkeit angewiesen sein wollen – vielleicht aus falschem Stolz, vielleicht aus bitterer Enttäuschung, vielleicht aus Angst vor den Folgen, wenn wir das uns eingestehen würden.

Barmherzigkeit ist kein Kuscheltrost-Thema, sondern eine Frage nach unserem Selbstverständnis. Wir werden sehen, dass es bei der Jahreslosung 2021 um sehr viel geht.

2.
Sie lautet: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Wir hören jetzt den biblischen Zusammenhang, in dem die Jahreslosung steht. Ich lese aus der sog. Feldrede des Lukas, aus Kapitel 6, die Verse 27-42.

27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 32 Und wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben ihre Freunde. 33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Denn die Sünder tun dasselbe auch. 34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch die Sünder leihen den Sündern, damit sie das Gleiche bekommen. 35 Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. So wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

3.
Wir hören zwei Haupt-Botschaften:

Erstens: Unser Vater ist barmherzig.

Zweitens: Wir sollen barmherzig sein.
Kennzeichen einer Gemeinde soll sein, dass in ihr Barmherzigkeit zu finden ist.
Im Umgang untereinander. Im Umgang mit Gästen, mit anderen, mit Fremden…

4.
Ich beginne heute eine kleine Predigtreihe über die Jahreslosung.

Die erste Predigt schaut auf den barmherzigen Gott.
Die zweite Predigt am 17.1. auf unsere Barmherzigkeit, indem wir unsere Feinde lieben.
Die dritte Predigt am 7.2. auf unsere Barmherzigkeit, indem wir nicht richten.

 

B.
„Euer Vater ist barmherzig“

I.
Was meint Barmherzigkeit im Hebräischen? Was ist Barmherzigkeit?

Barmherzigkeit heißt auf hebräisch „Rachamim“. Es leitet sich vom hebräischen Wort „Rächäm“ für Mutterleib bzw. Mutterschoß ab. „Rächäm ist weiblich und weist auf mütterliche Geburtsschmerzen hin, unter denen neues Leben in die Welt gebracht wird“. Was bedeutet das?

a.
Barmherzigkeit ist „ein echtes Bauchgefühl“. Barmherzigkeit ist „ein so tiefes Mitgefühl, dass sich die Eingeweide zusammenkrampfen“.

Barmherzigkeit ist „auf der einen Seite ein hinreißendes Gefühl der Empathie und Compassion: Ich werde persönlich in den erbärmlich leidenden Armen hineinversetzt und komme ihm spontan zur Hilfe: Ich muss, ich kann nicht anders.“ Barmherzigkeit ist „auf der anderen Seite das schöpferische Gefühl, mit dem eine neue Tat beginnt und Leben geboren und gerettet wird“ (Jürgen Moltmann, Über Geduld, Barmherzigkeit und Solidarität, S.70).

b.
Barmherzigkeit ist „eine Kraft, die sich durch nichts beirren lässt“. Barmherzigkeit ist „Ausdruck tätigen Mitleids: Da lässt Gott sich – wie eine Mutter bei ihrem Kind – anrühren und bewegen, aufstören und umtreiben“.

Darin besteht das Wesen der Barmherzigkeit, die aus dem Innersten aufsteigt: Sie folgt keinem Kalkül, kennt keine Nebenabsichten und wägt nicht den eigenen Vorteil ab. Sie hört zu, sieht hin, nimmt wahr; sie lässt sich berühren und tut, was anliegt.”

c.
Wichtig ist dabei, dass das Wort “rachamim” im Plural steht. Das ist kein Zufall. “Denn offensichtlich widerstrebt es der Barmherzigkeit, begrenzt und vereinzelt zu werden; sie quillt hervor und fließt über, bricht sich Bahn und macht Schule“ (Christfried Böttrich, in: Göttinger Predigt-Meditationen, 4. Vierteljahresheft 2020, S.102-104)

Barmherzigkeit ist ein Gefühl, aber keine Gefühlsduselei. Barmherzigkeit ist ein Gefühl, das zur Tat wird. Unser Vater im Himmel liebt uns mit der gleichen Leidenschaft und mit den 1000 Tätigkeiten wie eine Mutter, die ihr Kind versorgt, die ihrem Kind hilft, die ihr Kind tröstet.

Wie ein Kind die Liebe einer Mutter nicht verdient hat, sie aber auch nicht verdienen muss, so haben wir die Barmherzigkeit Gottes nie verdient. Wir müssen sie aber auch nicht verdienen.

Wie ein Kind nicht ohne die Mutter leben kann, können wir nicht ohne die Barmherzigkeit unseres Vaters im Himmel leben: Der barmherzige Gott hat ein offenes Herz für uns, nimmt unsere Nöte wahr und handelt entsprechend.

Wir alle müssen und dürfen uns melden: Wir haben es nötig, mit Barmherzigkeit und Liebe gesehen und behandelt zu werden!

 

II.
Wo und wann ist Gott uns gegenüber barmherzig? Bei welchen Themen und Problemen ist Gott barmherzig tätig?

Natürlich könnten wir sagen: Immer und überall. Alles, was wir haben, ist ein Geschenk des barmherzigen Gottes.

Natürlich könnten wir sagen: In jeder Not. Immer, wenn uns geholfen wird, ist Gott barmherzig zu uns.

Aber es ist doch sehr interessant zu sehen, dass der Begriff Barmherzigkeit im Alten Testament vermehrt und schwerpunktmäßig bei folgenden drei Themen vorkommt.
1.
Wenn eine hartherzige und gleichgültige Macht a lá “Ägypten” uns wie Sklaven hält, wenn ein unbarmherziger “Pharao” uns nicht freigeben will, wenn wir Erlösung brauchen.

Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört. Ich habe ihre Leiden erkannt“ (2 Mose 3,7)

„Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, gnädig und barmherzig, geduldig, reich an Liebe und Treue“ (2 Mose 34,6)

Wir sehen: Gott lässt sich berühren von der Not seiner Leute. Gott lässt sich bewegen, wo sie in irgendeiner Gefangenschaft leben. Gott wird barmherzig tätig, wo seine Geschöpfe und Kinder unfrei sind und sich selbst nicht aus dieser Unfreiheit befreien können.

Deshalb sagt die Jahreslosung 2021: Euer Vater ist barmherzig.

2.
Wenn uns Unrecht geschieht. Wenn wir Ungerechtigkeit(en) erleiden. Wenn wir dringend Hilfe benötigen.

„Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden… Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ (Ps 103,6-8)

Denn der Herr schafft Recht seinem Volk und erbarmt sich seiner Diener“ (Ps 135,14)

Es tut Gott weh, wenn jemand in Not ist. Er schlägt ihm auf den Magen, aufs Gedärm, aufs Gemüt, wenn er jemanden vom guten Leben ausgesperrt sieht, wenn er jemanden gedemütigt oder verzweifelt sieht.

Deshalb sagt die Jahreslosung 2021: Euer Vater ist barmherzig.

3.
Wenn wir schuldig geworden sind und Vergebung benötigen.

8 Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. 9 Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. 10 Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. 11 Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. 12 So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsre Übertretungen von uns sein. 13 Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten. (Psalm 103,8-13)

Wir stellen für heute die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Barmherzigkeit und Gottes Zorn zurück. Wir werden in einer Woche auf diese Frage eingehen.

Für heute halten wir fest: Gott geht barmherzig mit uns schuldigen Menschen um.

Deshalb sagt die Jahreslosung: Euer Vater ist barmherzig.

4.
Wir fassen zusammen:

Das Thema Barmherzigkeit beginnt nicht mit uns, sondern mit Gott.

Barmherzigkeit heißt, „dass zuerst Gott ein Herz mit uns Armen hat. Das heißt, dass Gott zutiefst bewegt ist von dir und mir und von uns, von seiner Welt.

Es heißt, dass Gott Mitleid empfindet mit mir und mit uns, mit der Stadt, in der du lebst, mit deiner Region, mit unserem Land. Gott ist es, der seinen Geschöpfen, den Menschen, nachgeht bis ans Äußerste. Gott beugt sich in Jesus zu uns Menschen herab. Gott kommt Schritt für Schritt in unser Leben – in jedes Leben, das ihn lässt. Gott begegnet dem inneren Hunger und Durst, der Unwissenheit und der Betrübtheit. Wenn wir Jesu Geburt, Leben und Tod vor Augen haben, dann haben wir Gottes Barmherzigkeit mit uns vor Augen, mit jedem von uns. Denn da ist keiner unter uns, in keiner Stadt, der die Barmherzigkeit Gottes nicht benötigen würde.“

Alle (christlichen) Werte setzen voraus, dass uns etwas widerfahren ist, nämlich das widerfahren ist, was wir zu leben versuchen. Wir spiegeln wider, was Gott an jedem Einzelnen von uns und an uns als Gemeinde tut” (Patrick Todjeras, Verwurzelt, S.84-86).

Deshalb kommen wir jetzt zum dritten Punkt der Predigt. Diesmal ist es keine Frage, sondern eine Aussage, eine wunderbare Nachricht:

 

III.
Wer Jesus sieht, sieht den barmherzigen Vater

30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, wurde er von Mitleid und Erbarmen überwältigt, 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm vollzogen hat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! (Lukas 10,30-37)

Der barmherzige Samariter ist ein Bild für Jesus. Der barmherzige Samariter ist ein Bild für den Vater.

Ein Mensch ist auf Barmherzigkeit angewiesen und bekommt das Erbarmen, ohne das sein Leben nicht weiterginge.

Die entscheidenden Sätze stehen im Vers 33 und im Vers 37: Er wurde von Mitleid überwältigt. Er hat Barmherzigkeit vollzogen.

Ich rufe Dich auf, das für Dich zu glauben: Dein Vater ist barmherzig. Dein Bruder und Freund Jesus ist barmherzig.

Gott geht nicht an Dir vorüber. Er sieht Deine Not. Er lässt sich bewegen. Er macht keinen großen Bogen um Dich.

Du kommst in Gottes Pflege. Er kümmert sich um Deine Wunden, wörtlich: Traumata.

Er lädt sich Dich auf. Du wirst getragen.

Er übernimmt die Kosten. Du lebst auf seine Kosten.

In Jesus werden also die Worte von Mose aus dem ersten Teil der Bibel konkret: „Herr, Herr, Gott, barmherzig, und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ (2 Mose 34,6).

In Jesus wird Gottes Barmherzigkeit greifbar, spürbar, klar und deutlich hörbar. Gottes Barmherzigkeit wird konkret und real, sie zeigt sich.

Wir sehen im barmherzigen Jesus unseren barmherzigen Vater. Halleluja! Amen!