Nach einem Jahr Corona: Die Frage nach den (Un-)Gewissheiten des Lebens – Von Thomas Pichel

A.
Wie geht es uns nach einem Jahr Corona? Was hat dieses Jahr mit uns gemacht?

1.
Corona ist allgegenwärtig. Jeden Tag neue Zahlen und Fakten; neue Ergebnisse und Entwicklungen; neue Regeln und Maßnahmen; jeden Tag neue Wahrheiten und Angeblichkeiten. Jeden Tag neue Fernsehsendungen. Jeden Tag neue Geschichten. Jeden Tag neue Gespräche darüber. Jeder von uns sagt wohl: Ich habe Corona über!

Zutreffendes bitte ankreuzen:
Corona langweilt. Corona nervt und stresst. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.
Corona macht aggressiv. Corona macht wütend. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.
Corona verunsichert. Corona macht ängstlich. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.
Corona lässt resignieren und verzweifeln. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.
Corona macht müde und matt. Viele sind erschöpft, ausgelaugt und ausgebrannt. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.
Viele hat Corona aber auch dankbarer gemacht. Die einen ein bisschen. Die anderen sehr.

2.
Corona ist eine unglaubliche Herausforderung: mental, psychisch, seelisch; privat und familiär; schulisch und beruflich; gesellschaftlich und politisch; wirtschaftlich und finanziell.

Ich sage es im Bild von einer Wanderung. Für uns alle ist Corona eine sehr lange Wanderung. Für die einen geht es durch eine endlos weite Ödnis. Für andere durch überraschend schöne Gebiete. Für andere ist Corona eine Wüstenexpedition. Es wird ihnen sehr viel, manchen alles abverlangt. Viele verlieren ihre Reisegefährten. Viele ihre Existenz. Nicht wenige ihr Leben.

Als Fußnote sei angemerkt: Ärmeren und armen Wüstenwanderern geht es wieder einmal schlechter als den gut situierten und reichen Wanderern!

3.
Corona drängt uns Themen und Fragen auf, die es auch vor Corona gab und ohne Corona gibt, die aber nun noch wichtiger sind.

Da ist das Thema Wahrheit und Vertrauen. Wer sagt die Wahrheit? Was kann ich glauben? Wem kann ich vertrauen? Auf wen kann ich mich verlassen?

Da ist das Thema Geduld. Wie lange nach? Das Thema Geduld ist immer auch die Frage: Was gibt uns Kraft durchzuhalten?

Da ist das Thema Angst und Wut. Wie werden wir mit unserer Angst und Wut fertig?

Da ist das Thema Toleranz und Rücksicht. Corona wirkt wie ein Spaltpilz in unserer Gesellschaft. Risse werden Gräben; Gräben werden tiefer und breiter. Aus Gräben zwischen Freunden und Kollegen werden oft Gräber. Gräber für ehemals gute, schöne, leichte, gelingende Beziehungen.

Die Predigt heute befasst sich mit dem Thema Ungewissheit. Corona stiehlt uns unsere Gewissheiten und macht alles so ungewiss. Ich las in einer Zeitung die Überschrift: „Sicher ist die Ungewissheit“.

Wie lange geht das alles noch? Wird es je wieder normal werden? Wird es mich treffen? Wie wird, sollte es mich treffen, der Verlauf sein? Wem kann ich vertrauen? Wird die Impfung mich schützen oder wird sie mir schaden? Corona sagt uns: Ich mache alles ungewiss. Ich zwinge jeden dazu, durch das Land der Ungewissheiten zu wandern.

Wir haben durch Corona nicht die Kontrolle über unser Leben verloren, sondern die Illusion, wir hätten alles im Griff (gehabt). In den letzten 12 Monaten haben sich viele unserer normalen liebgewordenen Gewohnheiten aufgelöst. Ich zähle einige auf: Wir können zur Arbeit gehen. Kinder können in die Kindergärten und Schulen gehen. Wir können ins Theater oder Kino oder Konzert gehen. Wir können uns treffen. Wir können in den Urlaub fahren… Corona nimmt uns die Selbstverständlichkeit dieser Freiheiten. Wie gesagt: Corona sagt uns: Ich mache alles ungewiss. Ich zwinge jeden dazu, durch das Land der Ungewissheiten zu wandern.

Was können wir diesen Ungewissheiten entgegenhalten? Ich bin so dankbar, dass wir das nicht aus uns heraus machen müssen. Das Evangelium schenkt uns drei Gewissheiten, die wir all dem entgegensetzen können. Deshalb kreist die Predigt um drei Gewissheiten, die uns gottseidank bleiben.

 

B.

I.
„Du aber bleibst, der du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende“ (Ps 102,28).

1.
Gott bleibt. Er bleibt, wie er ist. Er wird nicht altersschwach oder krank oder vergesslich.

Er bleibt der Herr, er bleibt „barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn, von großer Gnade und Treue“ (2 Mose 33,6)

Er bleibt „unser Gott“. „Dass er gar nicht Gott sein will ohne uns, sondern nur mit uns, so dass wir auch nicht ohne ihn Menschen zu sein brauchen“ (Karl Barth, in: Gesamtausgabe, Predigten 1954-1967, TVZ, S.204)

Er bleibt der, der nicht lügen kann, für den es unmöglich ist, uns zu belügen (Hebr 6,18) und der deshalb ein „sicherer und fester Anker unserer Seele ist“, der uns deshalb ein „starker Trost“, unsere „Zuflucht“ und unsere „Hoffnung“ ist.

Und sein Drehbuch mit der Menschheitsgeschichte bleibt. Irmela Hofmann sagt das einmal so: „Die Geschichte der Menschheit steuert auf ihr Ziel zu: Das Reich Gottes in Frieden, Gerechtigkeit und Schönheit. Aber der Weg dahin führt durch Katastrophen und Chaos hindurch bis zur endgültigen Vernichtung des Bösen. Noch sieht es so aus, als behielten Ungerechtigkeit, Elend und Gewalt in der Welt den Sieg. Armut und Hunger auf der einen Seite, irrwitziger Konsum und Luxus auf der anderen, dazu Lüge im Eurovisionsformat – alles scheint darauf hinzudeuten, dass jeder Kampf dagegen sinnlos, nutzlos und absolut erfolglos sei. Aber es sieht nur so aus.“

2.
Aber vielleicht hat das Corona-Jahr unser Bild von Gott verändert? Vielleicht ist da manches nicht geblieben? Vielleicht denken wir heute anders über Gott als vor Corona?

a.
Der Marburger Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto sagt in seinem Hauptwerk „Das Heilige“: Gott ist ein Geheimnis, das uns anzieht und fasziniert, das uns aber auch Angst macht und verunsichert.

Gott ist etwas Faszinierendes! Nichts ist faszinierender als seine Liebe, seine Barmherzigkeit, seine Treue, seine Gnade.

Aber wir dürfen das nicht verflachen! Gott ist zugleich „das, was uns erbeben lässt. Das, was größer ist als alles, was wir fassen können. Das, was mächtiger ist als alles, was wir in den Griff kriegen.“

Wir schwächen das gerne ab! Wir sagen: Das ist doch die Macht des liebenden Vaters. Das ist doch die Macht Jesu. „Das ist absolut richtig. Aber auch wenn wir die Macht… als die Macht der Liebe verstehen, bleibt es Macht, die größer und stärker und unheimlicher ist als alles, was wir fassen können.“

„Wenn wir Gott einmal verflacht haben, dann ist er (zwar) handlicher. Aber dann ist das Leben auch härter als er. Das ist vielleicht kein guter Tausch, wenn wir einen Gott haben, der am Ende für dieses Leben mit all seinen Härten, Schrecken und Grausamkeiten zu weichgespült ist.“</em (Thorsten Dietz, Worthaus, Vortrag: Ein Lebensthema Luthers. Ein Gott zum Fürchten?)

b.
Vielleicht sehen wir nach einem Jahr Corona die Verborgenheit Gottes besser, die die Bibel bezeugt (Jes 45,15; 1 Kö 8,12)? Verborgen heißt: Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich verstehe Gott nicht. Seine Führungen und Fügungen machen Angst, werfen Fragen auf, führen in Zweifel und Leiden.

Vielleicht sehen wir heute besser, dass die Bibel unter Allmacht Gottes seine Allwirksamkeit versteht? Es gibt kein Ereignis, das nicht etwas mit Gott zu tun hätte. D.h. Corona hat etwas mit Gott zu tun. Nur was und wie? Corona ist eine Gottes-Erfahrung, die uns verunsichert und erschreckt.

3.
Aber es bleibt uns eine Gewissheit: Gott bleibt Gott. Er bleibt der Herr. Er regiert. Nicht Covid 19.

Ich sage es mit einem Vers aus dem Morgenlied „Die güldne Sonne“ von Paul Gerhard.

„Alles vergehet.
Gott aber stehet
ohn alles Wanken;
seine Gedanken,
sein Wort und Wille 
hat ewigen Grund.
Sein Heil und Gnaden,
die nehmen nicht Schaden,
heilen im Herzen
die tödlichen Schmerzen,
halten uns zeitlich und ewig gesund!“

 

II.
Aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,6-8).

„Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“

1.
Einer meiner Lehrer lebte eine Zeitlang in Jerusalem. Er erzählte einmal vom November. Da regnet es in Israel. Viel und ausgiebig. Die braunen Böden werden grün. Dann erzählte er vom April. Da kommt der heiße Ostwind aus der arabischen Wüste. Alles Grüne verschwindet binnen weniger Tage. Alles wird bräunlich, hellbraun, grau-braun, gelb-braun, braun. Alles verdorrt und verwelkt.

2.
Das Gras verdorrt – auch das saftigste und nützlichste Gras! Die Blume welkt – auch die schönste, die duftendste Blume“. „Unser Menschenleben hat irgendwie den Tod, das Verdorren und Verwelken schon in sich und darum dessen Kommen mit unheimlicher Gewissheit vor sich.“ (Karl Barth, aa0, S.207)

Gott benutzt Corona, um uns unseren Umgang mit dem Thema Sterben aufzudecken. Wir leben normalerweise eine Unsterblichkeit auf Zeit. Wir leben heute doppelt so lange wie die Menschen vor 150 Jahren. Es gelingt uns sehr gut, den Gedanken an den Tod zu verdrängen. Viele haben das Gefühl, sie sterben nicht, obwohl sie es wissen. Corona sagt uns es, reibt es uns unter die Nase: Du bist sterblich. Alles ist vorläufig. Alles ist begrenzt. Alles hat ein Ende. Unser Leben. Die Erde. Das Sonnensystem.

Gerhard Schöne besingt das in seinem Lied “Irgendwann” auf sehr zutreffende Art und Weise:

Irgendwann siehst du
Zum letzten Mal Schnee.
Irgendwann trinkst
Du den letzten Kaffee,
Streichelst den Hund,
Tanzt durch den Saal.
Alles, alles gibt’s ein letztes Mal.

Irgendwann schmeckst du
Zum letzten Mal Brot,
Schwimmst du im See
Und betrachtest ein Boot,
Winkst einem Kind,
Gehst durch ein Tal.
Alles, alles gibt’s ein letztes Mal.

Irgendwann hörst du
Die letzte Musik,
Wirst du umarmt
Und erhaschst einen Blick,
Liest einen Brief,
Schreibst eine Zahl.
Alles, alles gibt’s ein letztes Mal.

3.
Aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit.

Bleiben heißt: bestehen, dauern, sich halten, sich bewähren“. „Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit: durch alle Zeit hindurch, über alle Zeit hinaus. Es umfasst alle Zeiten: die ganze Welt, ihre ganze Geschichte und so auch die ganze Lebensgeschichte eines Jeden von uns“.

Bleiben heißt: „Es hat Kraft, Gültigkeit und Gewicht, es behält sie und bekommt sie immer neu, ohne dass es… verstärkt, ohne dass es verbessert werden muss: ohne dass es durch andere Worte ersetzt oder verdrängt werden könnte oder müsste.

Bleiben heißt: „Es wird nicht alt, es ist immer und überall jung, frisch und neu, zu jedem Menschen, in jede Zeit hinein, und für jeden Menschen und jede neue Zeit gerade in ihre Lage hineingesprochen. Es ist so reich, dass es für einen Jeden das gerade ihn angehende, gerade ihn erleuchtende und rettende Wort sein kann und ist.“ (Karl Barth, aa0, S. 206f)

4.
Wir alle könnten jetzt Bibelworte aufzählen, die irgendwann zum ersten Mal auf uns einen bleibenden Eindruck gemacht haben und seitdem in unserem Leben treu dageblieben sind und für uns „Kraft, Gültigkeit und Gewicht“ haben.

5.
Ich will etwas anderes tun. Ich will vom entscheidenden, maßgeblichen und eigentlichen Wort Gottes reden, das Gott ausnahmslos jedem von uns grundsätzlich zusagt und schenkt.

Dieses Wort heißt Jesus Christus. Es heißt in Joh 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“.

Es heißt in Hebr 1,1-4: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe und ist so viel höher geworden als die Engel, wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name.“

Diese Gewissheiten bleiben uns: Jesus Christus bleibt in Ewigkeit. Weihnachten bleibt. Jesu Leben bleibt. Sein Kreuz bleibt. Seine Auferstehung bleibt. Seine Himmelfahrt bleibt. Sein Wiederkommen bleibt.

Alles, was Jesus gesagt und getan hat, bleibt in Ewigkeit. Seine Zuwendung zu Menschen, sein Umgang mit Menschen, seine Themen, seine Pläne, seine Werte, sein Traum vom Reich Gottes, all das bleibt.

Das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18) ist das bleibende Wort der Gewissheit: Gott kann mich leiden. Gott ist bereit mit mir zu leiden und wie ich zu leiden. Gott ist bereit, an mir und für mich zu leiden (Michael Herbst).

 

III.
„Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei!(1 Kor 13,13).

Glaube, Hoffnung und Liebe sind etwas Spannungsvolles. Sie sind auf der einen Seite Geschenke Gottes an uns und auf der anderen Seite die sog. göttlichen oder christlichen Tugenden.

1.
Christsein ist die Erfahrung: Es gibt etwas Größeres als mich. Ich darf und ich kann glauben. Ich darf und ich kann mich auf den bleibenden Gott verlassen. Denn seine Treue bleibt bei mir und gilt mir. Denn seine Macht bleibt, gilt, ist in Kraft.

Christsein ist die Erfahrung: Ich darf und ich kann auf den bleibenden Gott hoffen. Hoffnung in der Bibel ist nichts Vages oder Ungewisses, sondern Hoffnungsgewissheit. Ich darf und kann mir über das, was jetzt noch nicht zu sehen ist, was jetzt noch nicht zu greifen ist, ganz gewiss sein. Was Gott verspricht, wird so kommen, wird so werden, wird so enden.

Christsein ist die Erfahrung: Ich bin grundlos und bedingungslos geliebt. Das trägt mich in all meinen Selbstzweifeln und Zweifeln, in all meinen Brüchen und Abgründen, in all meinen Nöten und Problemen.

2.
Und doch sind Glaube, Hoffnung und Liebe auch christliche Tugenden, die wir beherzigen und leben sollen. Ich weiß: Wir alle haben jeden Tag genug ‚To dos‘, genug Aufgaben, genug Jobs, genug, woran wir denken und was wir erledigen müssen. Dennoch: Vertrauen, Hoffnung und Liebe sind unser höchstes Gut. Schützen wir es, indem wir Vertrauen, Hoffnung und Liebe leben! Schützen wir es, indem wir es praktizieren. Schützen wir es, in dem wir in Vertrauen, Hoffnung und Liebe investieren.

Bleiben wir im Gebet! Sagen wir zu dem Gott, der in Jesus Christus uns sein Herz gezeigt und geschenkt hat: Vater, ich gebe Dir mein Herz! Ich will Dich! Weil Du mich willst! Ich vertraue mich Dir an. Ich hoffe auf Dich. Ich liebe Dich! Vater, Dein Name werde geheiligt. Dein Wille geschehe. Dein Reich komme. Vater, weil Jesus sagt: Bittet, so wird euch gegeben!, bitte ich Dich jetzt für Herrn XYZ um A und B und C!

3.
Bleiben wir im Vertrauen, in der Hoffnung und in der Liebe. Zu Gott. Zu anderen Menschen. Bleiben wir in der Menschlichkeit.

Leisten wir dem Corona-Blues, dem Corona-Frust, der Corona-Angst, dem Corona-Ärger, der Corona-Wut, dem Corona-Misstrauen Widerstand, indem wir menschlich leben und mit anderen menschlich umgehen! D.h. Leben wir so, dass durch unser Tun andere sich leichter tun, ihrerseits Vertrauen, Hoffnung und Liebe zu leben! Zu anderen Menschen! Im Blick auf Gott!