Römer 11,25-32 – Israel als Geheimnis Gottes, als Geschenk Gottes und als Aufgabe für uns – Von Thomas Pichel

A.
Vorwort zum Israel-Sonntag

1.
Christen begehen heute am 16.8. den sog. Israel-Sonntag.
Wir bezeugen unsere Solidarität und Verbundenheit mit Israel, dem erwählten Volk Gottes.
Wir erinnern uns an die Schuld Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk.
Wir erinnern uns an die Schuld der Kirche gegenüber Israel.
Wir sind wachsam gegenüber altem und neuem Antijudaismus und Antisemitismus.

2.
Der Israel-Sonntag hat eine zeitliche Nähe zu einem wichtigen Feiertag im jüdischen Kalender. Der Feiertag heißt Tischa Be Av.

Tischa Be Av ist immer der 9. Tag des jüdischen Monats Aw. In diesem Jahr war das der 30. Juli. Tischa Be Av ist ein Trauertag.

Israel gedenkt an diesem Feiertag der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 586 vor Christus durch die Babylonier, der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 nach Christus durch die Römer und vieler anderer Katastrophen und Unglücke.

Man fastet an diesem Tag und liest das biblische Buch der Klagelieder Jeremias oder Trauerlieder.

 

B.

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verhärtung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

 

I.
Israel ist ein Geheimnis Gottes
.

Paulus will die Römer, will uns nicht im Unklaren lassen. Er will uns einweihen. Paulus will uns die besondere Beziehung Gottes zu diesem besonderen Volk zeigen.

Paulus sagt: Die Geschichte Israels ist ein Geheimnis, Israel selbst ist ein Geheimnis.

Ein Geheimnis ist nie eine Binsenweisheit, die offensichtlich und jedem einsichtig ist. Erst recht nicht ein Geheimnis Gottes. Man kann sie fehlinterpretieren. Man kann falsche Schlüsse ziehen. Geheimnissen Gottes muss man sich vorsichtig nähern. Zu schnelle Antworten und zu selbstsichere Urteile sind fehl am Platz.

Es bleiben Fragen. Und bei Israel gibt es immer Fragen. Paulus behandelt einige Fragen in Römer 9-11, also in drei langen Kapiteln.

Geheimnisse Gottes sind aber kostbare Geschenke, die Gott uns schenken und aufschließen will. Auch Israel ist ein Geheimnis Gottes, dass wir entdecken dürfen.

Um uns dem Geheimnis Israel zu nähern, schauen wir im Folgenden in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in die Zukunft Israels. Und wir schauen in Gottes Pläne mit Israel und der Welt.

 

1.
Wir schauen in die Vergangenheit Israels.

Paulus sagt: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Gottes Charismen, Gottes Geistesgaben, Gottes Gnadengaben sind unwiderruflich.

Paulus zählt in Römer 9,3-5 acht Gottes Geschenke an Israel auf.

Ich selber wünschte, verflucht zu sein und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen der Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen“

Israel ist achtfach von Gott beschenkt und ausgezeichnet. Für immer und ewig.

(1)
Die Kindschaft. Gott als Vater zu haben. Die Juden sind Gottes Kinder. Sie sind das erwählte Volk.

(2)
Die Herrlichkeit. Israel ist Augenzeuge für die Gegenwart, den Glanz, das Gewicht Gottes.

(3)
Der Bund. Die Bundesschlüsse. Gott verbindet und verbündet sich mit Israel. Davon lebt Israel.

(4)
Das Gesetz. Israel wird mit guten Lebensordnungen beschenkt.

(5)
Der Gottesdienst. Israel darf in Feiern Gott begegnen, ihn hören, das Gespräch mit ihm suchen, sich seiner Zusagen vergewissern, im Singen Gott loben und anbeten. Israel darf Schuld loswerden bzw. trotz aller Schuld getrost und fröhlich leben.

(6)
Die Verheißungen Gottes, die Israel begleiten, am Leben erhalten, Hoffnung geben.

(7)
Die Väter und Mütter des Glaubens, die uns als „Wolke der Zeugen“ (Hebr 12,1)  umgibt. Juden, aber auch wir können an ihrem Leben sehen und lernen, wie Gott mit uns umgeht, wie Glauben funktioniert.

(8)
Christus nach dem Fleisch. Aus Israel kommt Jesus, der Messias, der Gesalbte, der Retter für die Völkerwelt.

„Paulus statuiert hier klar, dass die Erwählung Israels nie annulliert wurde, dass Gott seine Verheißungen nicht bereuen könne und die Juden daher die Geliebten um der Väter willen bleiben, selbst wenn sie Feinde um des Evangeliums willen sind.“  Schalom Ben-Chorin, Die Erwählung Israels, S.74

 

2.
Wir schauen in die Gegenwart Israels.

Eine zeitlich befristete Verhärtung ist einem Teil Israels widerfahren. Das war die Gegenwart bei Paulus. Das gilt leider auch heute.

a.
Paulus sagt: Israel verhält sich spröde gegenüber der Botschaft von Jesus als Messias. Das griechische Wort ist nicht dasselbe wie bei Pharao (siehe in Rö 9,17f „sklerynein“). Das Wort heißt „porosis“.

Es ist das Wort für Tuffstein. Tuffsteine haben in sich kleine Hohlräume, in denen Gase oder Luft eingeschlossen sind. Deshalb eignen sich Tuffsteine als Isoliermaterial. Und doch sind Tuffsteine gut zu bearbeiten, weil sie nicht granit-hart sind.

Dieser Vergleich ist spannend: Israel isoliert sich, schließt sich ab. Deshalb kann die Botschaft von Jesus als Messias nicht in sie hinein. Und doch ist es kein hoffnungsloser Fall. Es ist irgendwie porös.

b.
Wir wissen: Paulus hat die Ablehnung einiger Juden als persönliche Feindschaft erlitten. Er schreibt z.B. in 2 Kor 11,24f: „Von den Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen, ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden“. D.h. er wurde wegen seines Glaubens an Jesus als Messias verfolgt.

c.
Wie ist es heute in Israel?

Für die Beantwortung dieser Frage bräuchten wir einen ganzen Vortrag. Drei kurze spannungsreiche Anmerkungen zu Israel.

Israel ist eine westliche Demokratie mit einer großteils agnostischen Bevölkerung. Man ist mit der Religion fertig, man hat sich weltanschaulich vom Glauben gelöst. Die allgemeine Gleichgültigkeit macht Diskussionen über den Glauben schwierig bis unmöglich. Gleichzeitig gibt es eine tiefe Bindung bzw. eine Tiefenbindung der Menschen an ihre Geschichte, an ihre Tradition, an ihre Feste.

Weihnachten und Ostern sind in Israel unbekannt. Auf Info-Tafeln an Touri-Orten ist Jesus eine Randfigur der eigenen Geschichte. Zeitungen zitieren Worte von Jesus, wie bei uns Aussagen des Dalai Lama zitiert werden. Während konservative Kreise Jesus als Feind der jüdischen Religion ansehen, ist Jesus vielen Israeli unbekannt. Aber etliche Juden achten Jesus als wichtigen Vertreter des Judentums, der aber eben leider vom Christentum zum Sohn Gottes gemacht worden ist.

Und es gibt die sog. “Messianischen Juden”, die eine absolute Minderheit darstellen, die weder vom Staat Israel noch von den konservativen jüdischen Gruppierungen, um es vorsichtig zu sagen, “geliked” werden.

 

3.
Wir schauen in die Zukunft Israels.

Der Israelsonntag ist ein Hoffnungssonntag.

Paulus sagt: „So wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«

Ich möchte zur Ehre Gottes das unterstreichen, was m.E. unstrittig ist:

Die Rettung Israels ist Chefsache. Gott reagiert auf das Nein Israels zu Jesus nicht mit einem Nein zu Israel.

Das ganze Volk Israel hat diese Zukunft. Gott wird die zeitlich befristete Verhärtung der Mehrheit Israels zu einem von ihm gesetzten Termin aufheben.

Gott kann nicht untreu sein (siehe 2 Tim 2,11). Er steht zu Israel. Einmal wird ganz Israel Jesus Christus vertrauen lernen.

Das ist das Ziel aller Wege Gottes mit Israel. Jesus wird kommen zur Rettung seiner Kinder, seines Volkes.

 

4.
Wir schauen in Gottes Pläne mit Israel und den Völkern.

Paulus sagt: “Ihr Völker der Welt habt Barmherzigkeit erlangt wegen ihres Ungehorsams”.
Israels Verhärtung war die Chance für alle anderen Völker. Mission unter den Völkern wurde möglich, als Israel Gottes Angebot abgelehnt hatte.

Die Ablehnung Jesu durch seine jüdischen Brüder, die Ablehnung Jesu als Messias, die Ablehnung der Erlösung durch Kreuz und Auferstehung benutzte und benutzt Gott, um das Evangelium unter alle Völker und Nationen zu bringen.

Es ist wie in der Josephsgeschichte. Gott macht aus etwas Schlechtem etwas Gutes. Die Ablehnung des Joseph durch seine Brüder kam vielen Menschen, aber auch seinen eigenen Brüdern zugute. Die Ablehnung Jesu durch seine jüdischen Geschwister, durch sein eigenes Volk kommt allen anderen Völkern zugute. Aber eines Tages wird Jesus seinen eigenen Brüdern und Schwestern zugutekommen.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege“ (Rö 11,33)

 

5.
Wir halten als Ergebnis fest: Israel ist nicht ein Volk unter anderen. Israel ist nicht eine nichtchristliche Religion. Israel ist nicht eine christliche Konfession. Israel ist ein Geheimnis Gottes.

 

II.
Israel ist ein (herausforderndes) Geschenk für uns.

1.
Ich sage es zunächst etwas allgemein und zusammenfassend:

Alles, was Kirche ist und hat, verdanken wir Israel:
• Wir leben von dem Heiland Jesus Christus, dem Messias, dem Erlöser, der ein Jude war.
• Wir leben von Israels Gotteserfahrungen und Gotteserkenntnissen.
• Wir leben von Israels Weisheit.
• Wir leben von ihren Psalmen, Liedern und Gebeten.
• Wir leben von ihren handfesten, konkreten… Verheißungen.
• Wir leben vom Drehbuch ihrer Geschichte. Es ist gleichzeitig das Drehbuch der Menschheitsgeschichte. Es gibt nur dieses eine Drehbuch. Gottseidank!
• Wir leben von ihren Geboten, z.B. der Gottesliebe, der Nächstenliebe.
• Wir leben sogar von ihren Fehlern und ihrer Schuld.

 

2.
Ich möchte nun einige konkrete Beispiele dafür geben, was ich durch Israel für mein Leben gelernt habe bzw. lerne. Es gäbe viel mehr.

(1)
Haltet euch selbst nicht für klug!“

Paulus spricht die große Dauerproblematik unter Bibellesern an. Zu denken, ich hätte das Wort besser verstanden als andere, ist eine Gefahr.

(2)
Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

Das ist eine wesentliche Frage für uns: Wie gehe ich mit Menschen um, die das Evangelium ablehnen, die meine Verkündigung ablehnen?

Paulus beschönigt nichts. Er fällt sachlich ein klares Urteil über ihr Verhalten. Paulus antwortet auf ihr Nein aber nicht mit einem Nein zu ihnen als Menschen. Kann und will ich das? Wo muss ich Buße tun, weil ich einen Menschen ablehne, weil er z.B. von dem, was ich ihm erzählen will, nichts wissen möchte?

(3)
Gottes Gaben und Berufung können Gott nicht gereuen“.

Ich kann wegen Israel glauben, dass Gott mir treu ist. Dass mein Ungehorsam sein Erbarmen mir gegenüber nicht aufhebt. Dass Gott mir ungehorsamen Menschen seine Liebe nicht verweigert.

(4)
„Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“.
D.h. wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir sind alle Gottes-Verweigerer! Jeder von uns hat eine Verweigerungsgeschichte.

Wir verweigern immer wieder Gott das Vertrauen, die Liebe, das Hören, die Zeit, die Demut, das Verzichten…

Wir können nicht mit Fingern auf uns zeigen: „Du bist schlechter! Deine Schuld ist schlimmer!“

Was ist die Folge davon?

Im Blick auf Gott: Wir haben alle die Liebe Gottes nicht verdient. Gott ist uns nichts schuld.

Im Blick auf uns untereinander: Es kann zwischen uns keine moralischen Überlegenheitsgefühle geben.

(5)
Ich habe durch Israel begriffen, dass wir sehr nüchtern und sehr realistisch über uns selbst und über das Leben allgemein, aber auch über das Leben mit Gott denken und reden müssen.

Ich deute eine Sache nur an: Gott lässt Erwählte leiden. Entscheidend ist nicht, was Erwählte wollen, sondern was mit ihnen von Gott her gewollt wird.

Schalom Ben-Chorin fragt: Können Menschen des Holocaust an ihrem Erwähltsein festhalten? Er macht darauf aufmerksam, dass vielen in den Gaskammern Gott selbst mit verbrannt und erstickt ist.

(6)
Und doch kann man in der jüdischen Art zu glauben eine Leichtigkeit und eine Freude erkennen. Die Freude (Hebräisch Simcha) ist ein göttliches Gebot an jedem jüdischen Fest. Bei der Auslegung der Bibel spielen Humor und Witz eine wichtige Rolle. Die Freude zeigt sich im Tanzen und in der Fähigkeit, sich selbst nicht ganz so wichtig zu nehmen.

 

III.
Israel ist eine Aufgabe für uns

Wenn ich an Israel denke, habe ich in mir einen Mix an Gedanken und Gefühlen. Da gibt es Freude und Dankbarkeit. Da gibt es die Traurigkeit, dass sie Jesus ablehnen. Da gibt es die Betroffenheit über die Last unserer deutschen Geschichte. Da gibt es den Schmerz, wie wenig attraktiv wir Christen für Israel sind. Da gibt es die Angst vor den neuen Neo-Nazis.
Ich möchte zum Schluss der Predigt nur auf zwei Aufgaben hinweisen:

1.
Lasst uns für Israel beten! Lasst uns für die sog. messianischen Juden beten!

2.
Anfang Juli wurde der Münchener Rabbiner Shmuel Aharon Brodman auf offener Straße antisemitisch beleidigt und attackiert.

“Ich bin vorsichtiger geworden. Ich gehe nicht mehr offen mit meiner Kippa auf die Straße, sondern verstecke sie unter einem Hut oder einer Baseballmütze”, sagte der 1959 geborene Brodman der “Süddeutschen Zeitung”. Wenn er mit seinem Sohn in der Stadt unterwegs sei, dann sprechen sie nicht mehr laut Hebräisch, wenn Leute sie hören könnten. “Das ist der Unterschied. Ich fühle mich sicher, aber nicht mehr so wie zuvor.”

Vielleicht braucht es in Zukunft Zeichenhandlungen der Solidarität? Dass wir z.B. uns eine Kippa zulegen und als Zeichen der Verbundenheit mit Israel in der Öffentlichkeit diese Kippa aufsetzen und tragen!