Luk 11,33-36 – In der Sehschule Jesu – Von Thomas Pichel

I.
Teil 1: Gesehenwerden und Sehen

1.
Jesus sieht uns. Gottseidank!

Mt 9,36: Und als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.

Wir wissen, was Jammern ist. Wer jammert, ist mit sich beschäftigt, will auf sich aufmerksam machen. Wer jammert, will Mitleid bekommen; möchte, dass es ihm besser geht.

Wen es aber jammert, dessen Aufmerksamkeit gilt anderen, dessen Mitgefühl wird von anderen angezogen, und das in einer tiefen Weise des Ergriffenseins. Das griechische Wort, das Luther mit „es jammerte ihn“ übersetzte, heißt: Es drehte Jesus die Eingeweide, den Magen um. Jesus schaut die Menschen an, es berührt ihn, er lässt sich von ihrer Not ergreifen.

Jesus sieht: Sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Jesus sieht den ungestillten Lebenshunger und Lebensdurst der Menschen. Er sieht ihre Vereinzelung und Einsamkeit. Er sieht ihre Orientierungslosigkeit, und das ergreift ihn, davon lässt er sich ergreifen. Er sieht nicht zuerst die Schuld oder das Versagen der Menschen, sondern ihre Not und ihre Bedürftigkeit

2.
Wir wissen aus den Evangelien, was Jesus von uns will. Er sagt zu uns: Folgt mir nach! Lernt von mir! Macht es genauso!

Das heißt also: Jesus will uns sein Sehen beibringen. Dass wir es lernen, die Menschen so zu sehen, wie er sie sieht. Dass uns die Menschen jammern. Dass wir uns von ihren Nöten berühren und ergreifen lassen.

 

II.
Teil 2: Luk 11,33-36. In der Sehschule Jesu

Ich lese einen wichtigen Text der Sehschule Jesu: 33 Niemand zündet ein Licht an und setzt es in einen Winkel, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit, wer hineingeht, das Licht sehe. 34 Dein Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. 35 So schaue darauf, dass nicht das Licht in dir Finsternis sei. 36 Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und kein Teil an ihm finster, dann wird er ganz licht sein, wie wenn dich das Licht erleuchtet mit hellem Schein. 

1.
Fach Geschichte: Wie sieht die historische Situation aus? Was war damals los?

Jesus ist in eine harte Auseinandersetzung mit anwesenden „Pharisäern und Schriftgelehrten“ verwickelt. „Schriftgelehrter“ war damals ein Beruf. Diese Leute hatten Jura und Theologie studiert. Die Gruppe der „Pharisäer“ war eine Buß- und Reformbewegung. Übertragen auf heutige Verhältnisse, kann man sagen: Sie wollten die Kirche erneuern. Sie wollten mit Ernst Gläubige sein. Es gibt Schlechteres!

Jesus ist ihnen mit seiner neuen Theologie verdächtig. Alles, was er sagt und tut, wird kritisch beäugt. In Luk 11 werden die anwesenden Schriftgelehrten und Pharisäer Augenzeugen, dass Jesus einen Menschen von einem bösen Geist befreit. Weil sie diese gute Tat als Tatsache nicht leugnen können, verbreiten sie ihre Verschwörungstheorie: Jesus ist gefährlich. Hinter seiner Macht steht der Teufel. Das ist der Versuch, einen Shitstorm auszulösen, um Jesus anzuschwärzen und unmöglich zu machen!

Wie reagiert Jesus in diesem Moment? Er stellt dieser absurden und unfairen Kritik seine Vision, sein Lieblingsthema, sein Herzensprojekt entgegen: Durch eine solche Befreiungstat leuchte etwas auf vom Reich Gottes (11,20).

Seien wir vorsichtig! Verdammen wir die Gegner Jesu nicht! Fragen wir eher, wie das sein kann. Gottgläubige Menschen, die ihre Bibel kennen, die den Willen haben, Gott zu gehorchen, agieren ohne Anstand und Fairness, traktieren einen anderen mit einer menschenverachtenden Respektlosigkeit. Warum sind sie Jesus gegenüber so „zu“? Warum dieses Ausgrenzen und Abstempeln? Warum halten sie ihn für einen Feind, den man bekämpfen muss?

2.
Ich lege jetzt den Text Vers für Vers aus. Im Bild der Schule gesprochen, gibt es jetzt eine Texterörterung:

Die Aufgabe lautet: Arbeitet heraus, was Jesus in der ursprünglichen Situation sagt! Übertragt das Gesagte auf uns heute bzw. auf das Thema: Andere gut sehen können!

Jesus macht uns in diesen bildhaften Sätzen darauf aufmerksam, wie unser Sehen, Erkennen und Verstehen funktionieren.

Jesus denkt einmal von außen nach innen: Wir können uns ohne Licht und ohne Sehfähigkeit nicht orientieren. Und wir werden von dem, was in uns eindringt, beeinflusst. Was wir sehen, löst viel in uns aus, macht sehr viel mit uns.

Jesus denkt auch von innen nach außen: Unsere Augen verraten oft viel über unser Innenleben. Denn die Gedanken unseres Herzens beeinflussen und bestimmen unser Sehen, Erkennen und Verstehen. Die Motive unseres Herzens sind die formende Kraft unseres Lebens.

(1)
33 Niemand zündet ein Licht an und setzt es in einen Winkel, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit, wer hineingeht, das Licht sehe. 

Jesus sagt ihnen: Ich habe das Licht des Reiches Gottes entzündet. Jetzt mache ich, was alle tun, die ein Licht entzünden. Ich verstecke es nicht. Ich lasse es für alle leuchten. Mein Auftrag ist es, Hoffnung zu verbreiten und Menschen zu helfen. Dazu bin ich von Gott gesandt und bevollmächtigt.

In dieser Antwort stecken Fragen an seine Gegner: Was ist daran falsch und schlecht, was ich tue? Warum verdreht ihr die Tatsachen? Warum wollt ihr mich bekämpfen? Worum geht es euch? Die Gegner Jesu müssen diese Fragen für sich beantworten. Und sie müssen sich entscheiden: Wollen wir unseren Misstrauenskurs gegenüber Jesus weiterfahren oder umkehren? Sind wir bereit, aus dem Gehörten und Gesehenen die Konsequenzen zu ziehen?

(2)
34 Dein Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. 

Ob jemand körperlich sehen kann oder nicht, ist Schicksal. Aber das existentielle Sehen ist kein Schicksal, sondern eine Frage der Verantwortung. Es ist eine Frage der inneren Haltung und Einstellung. Wie ich einen Menschen sehe, hängt davon ab, wie ich eingestellt bin: Bin ich offen oder zu? Wohlwollend oder voreingenommen? Will ich mich von seiner Not berühren lassen oder nicht? Es ist alles eine Frage der Einstellung meines Herzens!

Mit Herz ist das gemeint, was wir heute unser Selbst, unsere Persönlichkeit, unser Ich nennen. In der Bibel ist das Herz der Ort unserer Gedanken, unserer Emotionen und Wünsche, zugleich der Ort unseres Willens, unserer Entscheidungen und Pläne. Unser Herz entscheidet über unser Sehen. Unser Herz bestimmt unser Verstehen und Nichtverstehen. Unser Herz steuert unser Verhalten gegenüber anderen. Deshalb spricht das Neue Testament von Augen des Herzens (Eph 1,18). Diese Augen des Herzens können lauter oder böse sein.

Das leider aus der Mode gekommene Wort lauter heißt integer, aufrichtig, ohne Falsch, frei von bösen Motiven. Lauter kann auch großzügig heißen. Lautere Augen sind ein Indikator für lautere Herzmotive. Lautere Herzmotive und lautere Augen führen zu lauteren Verhaltensweisen. Das hat enorme Konsequenzen für unsere Beziehungen!

Böse Augen sind ein Indikator für böse Herzmotive. Das Wort, das hier steht, meint schlecht, boshaft. Es kann auch Neid heißen, manchmal sogar Geiz. Gemeint ist immer das Gegenteil von lauter. Böse Herzmotive und böse Augen führen zu bösen Verhaltensweisen. Auch das hat enorme Konsequenzen für unsere Beziehungen.

Deshalb spricht Jesus spricht von einem lichten und einem finsteren Leib. Leib, das sind wir in unseren Beziehungen. Leib, das sind wir in unserem Umgang mit anderen. Ein lauteres Herz mit lauteren Augen ist mit den entsprechenden Handlungen für andere licht, d.h. verlässlich, wohltuend, hilfreich. Ein böses Herz mit bösen Augen ist mit den entsprechenden Machenschaften für andere finster, d.h. problematisch, negativ, unheimlich, bedrohlich, und deshalb zum Fürchten und Flüchten.

(3)
Deshalb ruft Jesus jeden Einzelnen seiner Kritiker zur Selbstprüfung auf. Er sagt in v35: So schaue darauf, dass nicht das Licht in dir Finsternis sei. Check dich durch! Prüfe dich!

a. Prüfe deine Ansichten! Prüfe, was du in dein Leben hineinlässt, weil es dich fasziniert! Prüfe, was du für deine Erleuchtung hältst, also für das einzig Wahre, Richtige und Gute. Es kann unwahr, falsch und böse sein.

b. Prüfe dich selbst! Überprüfe deine Selbsteinschätzung! Wir Menschen können jederzeit einer partiellen oder absoluten Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung erliegen!

c. Und prüfe dein Verhalten, das aus deinen Ansichten und deiner Selbsteinschätzung kommt, prüfe dein Verhalten anderen gegenüber! Es kann licht oder finster sein!

d. Die Gegner Jesu sind für uns ein warnendes Beispiel! Was ist ihr Problem? Sie sind nicht wahrheitsfähig. Denn die Wirklichkeit darf nicht anders sein, als sie es wollen. Sie sind blind. Blind für sich! Sie sind blind dafür, dass sie glaubende Menschen sind, aber keine barmherzigen Menschen! Blind dafür, wie falsch und arglistig sie gegen Jesus agieren! Blind dafür, wie sehr sie an ihm schuldig werden! Sie sind blind für ihren Hass!

Sie sind blind dafür, dass sie ihr Bibelwissen ausblenden. Sie wissen es doch: Der Glaube an Gott und das Fixiertsein auf Gebote und Regeln schützt uns nicht vor den Boshaftigkeiten unseres Herzens, überwindet die bösen Motive unseres Herzens nicht!

Sie sind blind dafür, dass sie ihr Gewissen ausblenden. Sie sind bereit, für ihre Theologie und wohl auch für ihren Status die Wahrheit zu opfern. Wir sehen ihre Radikalisierung. Später waren sie bereit, den Menschen Jesus zu opfern.

e. Wir halten erschüttert fest: Es gibt bei uns Menschen ein Blindsein, das kein aufrichtiger Irrtum ist, sondern Schuld, für die wir Verantwortung tragen.

(4)
Aber es muss nicht dabeibleiben. Jesus spricht in Luk 11,36 sehr ermutigend von der Möglichkeit, dass wir anders werden und anders leben können! Er sagt: Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und kein Teil an ihm finster, dann wird er ganz licht sein, wie wenn dich das Licht erleuchtet mit hellem Schein.

Das ist so ein Bibelwort, von dem man ahnt, es ist etwas Wichtiges und Gutes, aber gleichzeitig nicht genau weiß, was es konkret bedeutet. Ich möchte Euch vorstellen, was ich vermute. Überlegt mit! Ergänzt mich! Ich bin mit dieser Stelle nicht fertig.

Ganz licht sein! Kann es sein, dass Jesus unsere Motive meint? Warum und wozu tue ich etwas? Arbeite ich in einer Gemeinde mit, weil es sich so gut anfühlt, gut zu sein? Diskutiere ich um das richtige Bibelverständnis, weil ich sehr gerne Recht habe und andere dominieren will?

Ganz licht sein! Kann es sein, dass Jesus unsere Rollen meint? Wie bin ich als Christ? Wie als Mensch? Wie als Mann? Wie als Vater? Wie bin ich in der Öffentlichkeit, wie privat, wie im Beruf?

Ganz licht sein! Ich habe an andere Menschen gedacht, deren Persönlichkeit und Verhalten für mich licht ist, also ein Geschenkepaket: Ich muss diese Menschen nie fürchten. Nicht einmal ihre positive Kritik. Sie sind für mich inspirierend und motivierend. Sie sind mir eine Hilfe. Sie vermitteln mir Orientierung und Hoffnung. Auffällig auch, dass das Menschen sind, mit denen ich viel lachen kann. Das ist wichtiger, als wir manchmal denken.

 

III.
Teil 3: Lernzielkontrolle. Ergebnissicherung.

Es geht in den Texten des Neuen Testaments, die von der Auseinandersetzung Jesu mit einigen Pharisäern und Schriftgelehrten handeln, nicht um eine pauschale Kritik an den Gegnern Jesu. Es geht darum, dass sie uns viel über uns Menschen verraten. Sie sind eine Hilfe, dass wir gläubige, religiöse, fromme Menschen uns besser sehen lernen. Genauer ausgedrückt: Sie sind eine Hilfe, dass ich mich selbst entdecke, meine Irrtümer, meine Motive, meine Schuld.

Jemand sagt einmal: Man sieht nur mit reinen Herzen und lauteren Augen gut.

Wir können viele Beispiele aufzählen, wie groß die Unterschiede zwischen einem reinen Herzen mit lauteren Augen und einem bösen Herzen mit bösen Augen sind:

Die gleichgültigen Augen eines gleichgültigen Herzens schauen an Menschen in Not vorbei. Liebende Augen eines liebenden Herzens nehmen den anderen wahr und lassen sich von seiner Not ergreifen! Der andere jammert sie!

Die geizigen Augen eines geizigen Herzens schauen und handeln anders als die großzügigen Augen eines großzügigen Herzens.

Die neidischen Augen eines neidischen Herzens schauen und handeln anders als die Augen eines Herzens, das frei von Neid und Missgunst ist.

Die rechthaberischen Augen eines rechthaberischen Herzens schauen und handeln anders als die Augen eines Herzens, das frei ist von Überheblichkeit, Rechthaberei und Besserwisserei.

Aber diese Texte sind auch eine Hilfe, dass wir entdecken, wie Jesus uns sieht und wie Jesus uns helfen will. Deshalb nun der letzte Teil der Predigt.


IV.
Teil 4: Unsere Hausaufgaben sind ein Lebensthema: Gottes Werk und unser Beitrag.

Gottes Werk dürfen wir glauben, dürfen wir erbitten und bedanken. Und unser Beitrag sind die Konsequenzen, die wir aus Gottes Wirken ziehen dürfen.

Wir machen uns das deutlich mit dem Wort Davids aus Psalm 51,12: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz! 

Warum geht es beim Thema Reinigen? Es geht um die Frage unserer Beziehungsfähigkeit, um die Frage unserer Gemeinschaftsfähigkeit!

Jesus will uns von den Dingen reinigen, die uns von ihm trennen. Jesus will uns von all den Dingen befreien, die dazu führen, dass wir anderen Menschen nicht nahekommen, sondern in einer unglaublichen und unerträglichen Distanz bleiben. Jesus will uns die Dinge abnehmen, die uns von uns selber entfremden, die verhindern, dass wir eine gute Beziehung zu uns selber haben.

Wir Menschen brauchen keine Belehrung, sondern Befreiung! Kein Mensch kann sich aus eigenem Willen ein reines Herz verschaffen. Kein Mensch kann aus eigener Kraft die innere Mitte seines Denkens, Wollens und Fühlens verändern! Aber Gott kann das! Und Gott will das auch. Wir dürfen das glauben: Gott will mir vergeben! Gott will mich verändern. Gott will und kann mich beziehungsfähig machen!

Deshalb lautet unser Beitrag: Glauben wir ihm das! Und bitten wir ihn: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Beichten wir ihm, was uns von ihm fernhält und trennt: unsere Verweigerung zur Nächstenliebe, unsere unsauberen und selbstsüchtigen Hintergedanken, unseren Neid, unser Dominierenwollen, unsere Schadenfreude, unsere Ungerechtigkeiten und Unbarmherzigkeiten…

Denn es gilt das Wort aus 1 Joh 1,9: „Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ Halleluja! Gottseidank! Amen!