2 Mose 33,18-23 – Was Gott uns verwehrt, was Gott uns schenkt – Von Thomas Pichel

18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! 19 Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21 Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23 Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

 

Ich danke Michael Welker und Wilfrid Härle, denen ich wichtige Erkenntnisse bzw. Gedanken für diese Predigt verdanke.

 

A.
Lass mich deine Herrlichkeit sehen!

1.
Wir Menschen wünschen uns oft: Leben, lass mich meine Herrlichkeit sehen. Oder wenn wir gläubig sind: Herr, lass mich meine Herrlichkeit sehen! Mose bittet Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen.

2.
Ich glaube nicht, dass Mose aus religiöser Neugier oder Erlebnissucht bittet. Ich glaube, dass er aus einer echten Not bittet, dass er ein starkes Bedürfnis hat.

Was war los damals? Wie ist die geschichtliche Situation?

Moses Bitte steht im Zusammenhang einer tiefen Krise. Das Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel ist tief gestört. Israel hat sich mit dem Goldenen Kalb  eine Alternative zu Gott, einen Ersatz für Gott, einen Götzen beschafft und damit alles kaputt gemacht. Auch das Verhältnis zwischen Israel und Mose ist tief gestört. Das alles ist für Mose eine äußerst schwierige und kritische Situation – erst recht angesichts des schweren Weges, der vor ihnen liegt, angesichts der zukünftigen Konflikte, wenn Israel das versprochene Land erobern will, wenn die Existenzansprüche, Existenzrechte und Existenzängste Israels mit den Ansprüchen, Rechten und Ängsten der anderen Völker im Gelobten Land zusammenprallen werden.

Angesichts einer Krise, angesichts einer herausfordernden Zukunft braucht man ein starkes Gottesverhältnis, eine starke Gottesgewissheit, einen starken Glauben. Deshalb bittet Mose: Lass mich deine Herrlichkeit sehen!

3.
Worum bittet Mose mit dieser Bitte? Was will er wissen? Was will er haben?

Mose will wissen, ob Gott diesem untreuen Volk, das gerade den Glauben aufgekündigt hat, die Treue hält. Aber es geht um mehr.

Mose will den Beweis dafür, dass Gott sein Volk in der Wüste nicht im Stich lässt, nicht verdursten und verhungern lässt. Er will die vor ihm liegende Wegstrecke überblicken können. Er will das Wissen um Gottes Pläne und Wege. Und er will die Erfolgsgarantie. Er will sicher sein, dass das Ganze gut geht. Er will es aus Gottes Mund hören und aus seinem Angesicht ablesen. Mose bittet um die unbedingt verlässliche Begegnung mit Gott, die zweifelsfreie und vollkommene Gegenwart Gottes (Welker). Mose bittet um den zweifelsfreien und vollkommenen Einblick in Gottes Geheimnis. Deshalb bittet er: Lass mich, Herr, Dich direkt sehen und erkennen! Schenk mir die uneingeschränkte Begegnung mit Dir. Lüfte dein Geheimnis.

Mose bittet das für sich. Er sagt zu Gott: Überzeuge mich ein für alle Mal. Beeindrucke mich so, dass ich nie mehr in Anfechtung komme. Mose will seine eigenen Zweifel loswerden. Er will sich endlich und endgültig von der Existenz, Macht und Güte Gottes überzeugen (Härle).

Mose bittet das aber auch für sein Volk. Er sagt zu Gott: Überzeuge das Volk ein für alle Mal. Beeindrucke die Leute so, dass sie nie mehr anderen Göttern nachlaufen. Mose will auch das Volk endlich und endgültig von der Existenz, Macht und Güte Gottes überzeugen. Er will dem Volk Sicherheit geben. Er will die Zweifel der Leute überwinden. Er will die Menschen von allen Zukunftsängsten erlösen (Härle).

Wir fassen zusammen: Mose will absolute Gewissheit. Er will einen unüberbietbaren Halt. Er will Garantien. Deshalb bittet er um die 100%ige Erkenntnis Gottes. Deshalb bittet er um die ultimative Gotteserfahrung. Er will Gott ganz, pur und unmittelbar.

Wir merken: Wir sind nicht Mose. Aber wir sind wie Mose. Wir verstehen ihn sehr gut. Mose träumt unseren Traum: Lass uns sehen, Herr! Sehen – nicht nur glauben, nicht nur hören, nicht nur ahnen. Lass uns sehen: Dich. Deine Gegenwart. Deine Herrlichkeit. Dich in deiner Größe, in deiner Pracht: beeindruckend, leuchtend, eindeutig, klar, stark, mächtig, triumphierend, großartig.

Diese Bitte ist der Traum, nicht mehr im Glauben kämpfen zu müssen. Keine Fragen mehr zu haben! Keine Zweifel mehr zu haben! Weil Gott uns den wasserfesten Beweis geliefert und uns damit in den Status der absoluten Sicherheit gebeamt hat!

 

B.
Was lernen wir durch diese Geschichte über Gott und seinen Umgang mit uns?

I.
Gottes deutliches Nein.

Gott sagt freundlich, aber bestimmt Nein zur Bitte Moses. Er schimpft nicht. Er ist nicht verärgert. Aber Gott verwehrt Mose diesen Wunsch. Gott sagt freundlich, aber bestimmt Nein. Die Begründung lautet nicht: Das geht nicht, weil ich unsichtbar bin. Die Begründung lautet: Das geht nicht, weil du das nicht überleben würdest.

Die Botschaft, dass kein Mensch Gottes Angesicht unvermittelt sehen und am Leben bleiben kann, gehört zum biblischen Gottesbild. Es gibt Menschen, die diese Botschaft für ein primitives archaisches Gottesbild halten. Es gibt Menschen, die sie für magisches Denken halten. Es gibt Menschen, die sie für den bösartigen Versuch von Judentum und Christentum halten, die Menschen durch das Schüren von Ängsten gefügig zu machen und zum Glauben zu manipulieren.

Leider ist es so, dass diese Botschaft tatsächlich missbraucht wurde. Aber ihr Missbrauch spricht nicht gegen sie, sondern gegen die Kirche, die den Missbrauch getätigt hat. Ich halte diese Botschaft für eine nötige und hilfreiche Wahrheit, die aus dem Unterschied zwischen dem Schöpfer und uns Geschöpfen und aus dem Unterschied zwischen der Heiligkeit Gottes und uns sündigen Menschen herrührt. Kein Mensch würde die volle Klarheit über Gott, die ultimative Begegnung mit Gott, die ungeschützte unmittelbare Gotteserfahrung vertragen. Deshalb gilt in der Bibel der Grundsatz: Gott muss uns vor sich selbst schützen.

Denn zu Gottes Herrlichkeit gehört seine heilige Unschuld, seine heilige Güte. Wenn wir den totalen Einblick in Gottes Gutsein hätten, würden uns angesichts dessen unsere eigene Lieblosigkeit, Treulosigkeit und Gleichgültigkeit mit solchem Erschrecken bewusst, dass wir das nicht überleben würden (Härle).

Denn zu Gottes Herrlichkeit gehört eine ungeheure Kraft der Auseinandersetzung mit dem Bösen (Welker). Diese Kraft ist sein Zorn. In Gott ist nichts Böses. Er hat aber eine vernichtende Wirkung auf alles Böse. Wenn wir den totalen Einblick in seinen Zorn bekämen, würden wir im Spiegel seines zornigen Angesichts unsere Lieblosigkeit, unsere Treulosigkeit, unsere Gleichgültigkeit total erkennen. Wir würden das nicht verkraften. (Härle)

Das meint der Hebräerbrief, wenn er sagt (Hebr 10,31): Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Weil Gott das weiß, erhört er die Bitte Moses nicht, erhört er unsere Bitte nicht, wenn wir bitten: Zeig Dich uns ganz! Zeig Dich uns richtig! Lass uns Dich 100%ig erkennen! Deshalb begegnet er uns so, wie er Mose in der Geschichte unseres Predigttextes begegnet ist, nämlich feinfühlig und liebend. Auf der einen Seite beschützt er Mose. Gott stellt ihn in einen Unterschlupf. Er hält die Hand über Mose. Er dimmt seine Nähe herunter. Er verbirgt sich im Dunkel. Er stuft seine Gegenwart ab. Er schenkt eine unvollständige Begegnung. Andererseits schenkt er dem Mose so viel Nähe wie möglich, beschenkt er den Mose mit unglaublich großen Geschenken. Und diese Geschenke schauen wir uns jetzt näher an!

II.
Gottes Güte. Das Gute in unserem Leben.

Gott verspricht unserem Leben, Gott schenkt uns seine Güte. Er sagt: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen. Wir dürfen die Auswirkungen seiner Güte sehen. Wir bekommen die Resultate seiner Gegenwart und seines Gut-zu-uns-Seins zu sehen.

Das schenkt Gott Mose. Das schenkt Gott uns: Wir sehen Gottes Güte. Wir sehen all das Gute, das Gott uns erwiesen hat, erweist und erweisen wird. David sagt es in Ps 23 so: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.

III.
Gottes Name

Gott verspricht und schenkt uns seine Gnadenwahl. Gott offenbart seinen Namen. Gott sagt: Ich will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.

Zugegeben: Es ist ein langer und umständlicher Name. Aber es ist ein schöner Name. Gott wählt diesen Namen und legt sich im Umgang mit uns auf Gnade und Erbarmen fest.

Es ist ein Name der Treue. Dieser Name steht für Gottes frei und bewusst gewählte, unverbrüchliche Verlässlichkeit.

Dieser Name ist Programm. Michael Herbst sagt das einmal so: „Gottes Name ist sein Charakter: Gnade, Erbarmen, Treue, Fürsorge, Zuneigung, Verlässlichkeit, Zugänglichkeit – das sind Gottes Namen, die wir hören. Hör hin. Glaube lebt vom Hören.“ Dieser Name ist ein Geschenk.

 

C.
Die Bedeutung des Textes für uns heute.

Der kleine Prinz von Saint Exupéry kann uns helfen. Der Kleine Prinz sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“. Wie schaut dieses Mit-dem-Herzen-Sehen für Christen aus? Was gibt es für unsere Herzen zu sehen und zu verstehen?

Wir lesen im Predigttext. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen. Was dürfen wir mit dem Herzen sehen?

I.
Wir dürfen hinter Gott her sehen

Wir sind Ruderer. Wir sehen die Vergangenheit. Aber der Blick in die Zukunft ist uns verwehrt.

Der dänische Religionsphilosoph und Schriftsteller Sören Kierkegaard sagt einmal: „Das Leben kann nur nach vorne, nach vorwärts gelebt, aber es kann nur nach hinten, nach rückwärts verstanden werden“.

Gott sagt zu uns: Du darfst hinter mir her sehen. Du darfst die Auswirkungen meiner Gegenwart sehen. Du darfst meine Wirkungen in deinem Leben sehen.

Üben wir das! Machen wir das immer wieder einmal. Schauen wir zurück. In einer stillen Stunde. Am Ende oder Anfang des Jahres. Am Geburtstag. Nach einem Todesfall. Nach einer überstandenen Krankheit: Wo darf ich Spuren des wirklich Guten sehen? Spuren der Güte Gottes? Welche Erfahrungen habe ich mit Gottes schönen Namen machen dürfen?

II.
Wir dürfen die Herrlichkeit Jesu sehen

In Joh 1,14 lesen wir: Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit. Wir dürfen im Leben Jesu die Herrlichkeit Jesu, aber auch die Herrlichkeit des Vaters sehen, denn wer Jesus sieht, sieht den Vater (Joh 14,9).

Wir dürfen im Wirken Jesu die Güte des Vaters sehen. Joh 2,11 spricht von Zeichen seiner Herrlichkeit. Da ging es um Hunderte Liter besten Weins auf einem Hochzeitsfest.

Und in Joh 12,23 wird uns gesagt, dass die eigentliche Verherrlichung Jesu mit seiner Kreuzigung geschah. Wir dürfen die Herrlichkeit Gottes im Leiden und Sterben Jesu ‚sehen‘. Der leidende, sich hingebende Gottessohn offenbart die Herrlichkeit Gottes.

Martin Luther nannte das die „Theologie des Kreuzes“. In dem Gekreuzigten ist die „wahre Theologie und Gotteserkenntnis“. Wir Menschen haben die normal-menschliche Vorstellung und Erwartung, dass wir Gott in seiner Macht- und Prachtentfaltung suchen. Gott aber gibt uns sich und seine Herrlichkeit zu erkennen „im verurteilten, gekreuzigten, hingerichteten Jesus Christus, der unser Scheitern, unsere Schwäche, unser Elend mit uns teilt.“ (Härle)

Noch einmal: Herrlichkeit ist das, womit Gott sich zu erkennen gibt. Herrlichkeit ist das, womit Gott uns überzeugen und für sich gewinnen will. Das NT sagt uns: Gott zeigt seine Herrlichkeit nicht in seiner beeindruckenden und triumphierenden Allmacht, sondern in seiner grenzenlosen Liebe zu uns Menschen und in seinem Leiden für uns Menschen.


III.
Wir dürfen bei Gott daheim sein. Wir dürfen in einem Raum des Gebetes leben.

Es heißt: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Stell dich auf diesen Fels!

Auf der Leinwand sehen die GottesdienstbesucherInnen einen Altartisch, der im neuen Gebetsraum der LKG stehen wird. Es geht also in diesem Vers aus 2 Mose 33 um unsere Gebetsbeziehung zu Gott.

Gott sagt zu Dir: Es ist ein Raum bei mir für Dich. Das heißt: Er schenkt uns Raum. Er schenkt uns seine Nähe. Dieser Raum ist unser Zuhause.

Gott sagt: Es ist ein Raum bei mir. Es heißt nicht: Es ist ein Raum unter mir. Gott lässt uns zu sich. Er hebt uns zu sich hoch. Was für eine Würdigung und Wertschätzung!

Gott sagt: Stell dich hin! Nimm diesen Platz ein! Es ist dein Platz. Reserviert für Dich.

Gott sagt: Stell dich hin auf den Felsen, auf den Felsen der Versprechen und Zusagen Gottes. Gott der Herr ist ein Fels (Jes 26,4). „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss“ (Ps 33,4).

Wir könnten darüber jetzt viel sagen. Ich möchte zum Schluss eine seelsorgerliche Botschaft uns allen mitgeben:

Wenn es Dir schlecht geht, wenn du keine Kraft mehr zum Stehen hast, dann lege dich hin! Du bist nicht allein. Es ist jemand mit dir.

Glaube es, mit Dir, in Deinem Dunkel, ist Jesus!

Glaube es, hinter dem Dunkel, an dem du leidest, ist dein Vater! Eines Tages wird dieses Dunkel vorbei sein!

D.
Und eines Tages, in der Ewigkeit, werden wir dann Gottes Herrlichkeit sehen.

Dann wird die Bitte Moses erfüllt werden. Weil wir dann verwandelt sein werden. Dann wird es eine Begegnung mit Gott ohne Angst und in großer Freude geben! Halleluja!