Jes 55,1-5 – Wenn Gott sich als Marktschreier und Lebensmittelhändler betätigt – Von Thomas Pichel

1 Auf, jeder Durstige, kommt zum Wasser! Auch wer kein Geld hat – kommt! Kauft und esst um Nicht-Geld und um Nicht-Preis (Luther: ohne Geld und umsonst) Wein und Milch ! 2 Warum wollt ihr Geld hergeben für Nicht-Brot, und den Lohn eurer schweren Arbeit für das, was nicht satt macht? Schenkt mir doch Gehör, dass ihr Gutes zu essen bekommt und sich am Köstlichen eure Seele labe! 3 Neigt euer Ohr zu mir und kommt zu mir, hört zu, dass eure Seele auflebe! Ich will mit euch schließen einen ewigen Bund: die verlässlichen Gnadenerweise für David. 4 Siehe! Ich habe ihn zum Zeugen für die Völker gemacht, zum Fürsten und Gebieter für die Völker. 5 Siehe! Du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen – um Jahwes, deines Gottes willen, des Heiligen Israels, denn er verherrlicht dich.

 

I.
Teil 1: Was lernen wir über uns und unser Leben?

1.
Die (hebräische) Sprache denkt für uns?

a.
Das Wort für uns Menschen

Es gibt das hebräische Wort näpas (gesprochen näfäs), das einerseits unsere Kehle meint, also das Organ, mit dem wir Nahrung aufnehmen und Luft ein- und ausatmen, das aber andererseits uns selbst als Menschen meint. Was sagt uns dieses hebräische Wort über uns selbst?

Wir tragen in uns eine unauslöschliche, vitale Sehnsucht nach Leben. Wir lechzen körperlich, aber auch übertragen nach Lebensmitteln. Wir sind ein Mangelwesen. Wir sind darauf angewiesen, dass wir von außen Luft und Nahrung bekommen, dass wir zu trinken und zu essen bekommen, körperlich und übertragen. Wir sind also Bedürftige und Empfangende.

Und wir sind verletzliche Wesen. Körperlich verletzlich und psychisch, seelisch, existentiell verletzlich. Das wäre ein eigenes Thema.

b.
Die beiden Wörter in Jes 55,1-5 für Geld

Das eine Wort hängt mit Begehren und Sehnsucht zusammen. D.h. an unserem Umgang mit Geld können wir uns selbst entdecken: unsere Begierden, unsere Sehnsucht, unsere Bedürftigkeit, unsere Notwendigkeiten.

Das andere Wort für Geld hängt mit dem hebräischen Schekel zusammen. Wörtlich meint dieses Wort: Was den Hunger bricht. Was unsere Bedürftigkeit befriedigt. Was unsere Sehnsucht erfüllt. Was unseren Durst stillt. Besser kann man die Faszination, die Macht und die verführerische Kraft von Geld nicht ausdrücken!

2.
Es gibt Dinge, die wir nicht mit Geld kaufen können.

Es ist klar: Für materielle Dinge, für unsere Lebensmittel brauchen wir Geld. Aber das, was uns als Mensch wirklich erfüllt, ist noch nie käuflich gewesen. „Unbezahlbar ist die Treue eines Menschen in der Not, die Liebe, das glückende Spiel, das tröstende Lied, die Begegnung mit einem Menschen, aus der wir seelischen, geistigen oder geistlichen Gewinn zogen, der Vogelsang und die Blütendüfte eines Frühlingsmorgens, die Geborgenheit in Gott.“ (Werner Grimm, Deutero-Jesaja, S.468).

Vergessen wir diese Wahrheit nicht! Die Hülle vieler Dinge kann ich mir kaufen, beschaffen, besorgen, selber geben, den Kern der Dinge nicht!

Ich kann mir ein neues Auto, ein neues E-Bike, ein Segelboot… kaufen, aber nicht die Freude daran, nicht die ersehnte Ruhe, nicht die Erfüllung…

„Kaufen kann man sich: Essen, aber keinen Appetit; Arznei, aber keine Gesundheit; weiche Kissen, aber keinen Schlaf; Gelehrsamkeit, aber keinen Witz; Glanz, aber keine Behaglichkeit; Zerstreuung, aber keine Freude; Bekannte (und Fans), aber keine Freundschaft; Diener, aber keine Treue; vergnügte Tage, aber keinen Frieden. Die Hülle all dieser Dinge kann man für Geld kaufen, den Kern aber nicht“ (Arne Garborg, zitiert nach Gradwohl III, S.245).

Das, was uns erfüllt, können wir uns nicht kaufen, nicht selber beschaffen, nicht selber geben, das kann uns nur geschenkt werden. Wir bekommen es gratis. Von Gott – durch ihn selbst, durch das Leben, durch andere Menschen!

 

II.
Teil 2: Was erfahren wir hier über Gott?

1.
Gott stellt sich uns vor als orientalischer Marktschreier und als Wasserverkäufer und Lebensmittelhändler! Aber Gott ist ein merkwürdiger Händler. Er will kein Geld! Er ist sozusagen gemeinnützig! Sein großzügiges Herz schlägt für seine Kunden. Gott lädt alle zu sich ein! Er ruft die Menschen zu sich. Er will jeden beschenken.

2.
Was ist mit Brot und Wasser und mit Wein und Milch gemeint? Gottes Angebot hat drei Ebenen.

a.
Da ist die körperliche, materielle Ebene. Wir als Leib!

Brot und Wasser und Milch stehen für elementare Lebensmittel, für das tägliche Essen und Trinken, für das Überleben, für den Lebensunterhalt.

b.
Da ist die menschliche Ebene. Wir als Seele!

Wein und Milch sind Getränke der festlichen Fülle, des Feierns, der Freude, sind Nahrung für die Seele

Brot übertragen heißt dann, dass wir als Menschen das Brot des Verstandenwerdens brauchen, das Brot der Vergebung, das Brot der Geborgenheit.

Wir sehen das daran, dass unser Text 2x über uns als Seele redet: Dass sich unsere Seele am Köstlichen labe! Dass unsere Seele auflebe! Dass wir den Kern der Dinge erleben: Freude, Sinn, Erfüllung, Kraft…

c.
Da ist die geistliche Ebene, die Ebene des Glaubens. Es geht um Glaubensgewissheit, Glaubensfreude, Glaubenstrost und Glaubenshoffnung.

3.
Wir werten aus: Gott uns beschenken. Deshalb ruft er uns zu sich. Unser Text hat 10 Tätigkeitswörter. 3x heißt es: „Kommt her!“ 3x ist vom Hören die Rede (Schenkt mir euer Gehör! Neigt eure Ohren zu mir! Hört!)

Gott will durch sein Rufen uns in Bewegung bringen, unser Herz verändern, unser Denken reformieren; er will uns aus der Resignation herausholen, Schwermut in neue Freude verwandeln, Hoffnung geben.

In Jesus Christus hat diese Selbstvorstellung ihren Höhepunkt. Mt 11,28 ist das Update von Jes 55,1-5: Jesus ruft uns zu sich: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

 

III.
Teil 3: Wer sind denn die Adressaten? Wen ruft Gott denn zu sich?

1.
Die ersten ursprünglichen Adressaten, die diese Worte zum ersten Mal hörten, sind die Israeliten in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft.

Israel musste eine äußerst schwierige Erfahrung mit Gott verkraften und verarbeiten. Alles war verlorengegangen: die Bedeutung des Königtums Davids, die staatliche Selbständigkeit, der Tempel, die Freiheit, die religiösen Gewissheiten. Ein Teil des Volkes lebte mehr schlecht als recht in Israel. Der andere Teil als verschleppte Minderheit in einem fremden Land mit einer anderen Sprache, anderen Kultur und anderen Religion.

Die Leute waren belastet und mühselig. Die einen plagte die Erkenntnis: Wir haben es verbockt. Die anderen plagte die Frage: Wir werden in ein Geschehen verwickelt, für das wir nichts können. Warum lässt Gott das über uns kommen?

Die Leute fragten sich: Haben wir überhaupt eine Zukunft? Meint Gott es gut mit uns? Ist er für uns da oder gegen uns? Oder ist es naiv, von ihm etwas zu erhoffen?

Die Gefahr war, dass der Glaube an Gott verlorenging und durch den Glauben an die babylonischen Götter ersetzt wurde.

Israel hörte in dieser Situation die Botschaft: Der Herr ist da! Bei Dir! Der Herr ist dir geblieben! Und seine Einladung gilt dir!

2.
Die zweiten Adressaten, die diese Worte zum ersten Mal lasen, sind die Israeliten nach der babylonischen Gefangenschaft.

Man ist zurück in Israel. Nichts ist mehr so wie früher. Es gibt Katastrophengewinnler und -verlierer. Die einen haben Geld, die anderen nicht. Die Umstände bleiben schwierig. Man muss ohne Jerusalem und ohne Königtum die eigene Religion völlig neu denken.

Israel hörte in dieser Situation die Botschaft: Kommt mit euren Fragen, mit euren Enttäuschungen und eurer Sehnsucht zu Gott! Der Herr ist euch geblieben! Und diese Einladung gilt euch!

3.
Die dritten Adressaten sind Synagoge und Kirche zu allen Zeiten, sind wir selbst!

Gläubige Menschen, die um Gott wissen, die Gott kennen, aber die – merkwürdigerweise – doch Durst und Hunger haben, deren vitale Sehnsucht nach Leben, warum auch immer, nicht gestillt wird!

Die Kirche, die ihre Bedeutung in Staat und Gesellschaft verloren hat, die ihre Identität und ihren Weg neu finden muss, hört diese Botschaft: Komm mit deinen Fragen, Enttäuschungen und Hoffnungen zu Gott! Der Herr ist dir geblieben! Und diese Einladung gilt dir!

Glaubende Menschen, die schwierigste Erfahrungen erlebten und deshalb ihre Gewissheiten verloren haben, und die hier hören: Komm mit deiner Not zu Gott! Komm mit deiner Sehnsucht zu Gott! Du hast vieles verloren. Der Herr aber ist dir geblieben. Er bleibt Dir! Und diese Einladung gilt Dir!

4.
Die vierten Adressaten sind Menschen, die noch nicht glauben, deren Lebenshunger und -durst nicht gestillt werden.

Menschen, die für viel Geld und mit viel Stress irgendwelchen Glücks- und Sinnverkäufern nachlaufen!

Menschen, die kein Geld haben, die arm sind. Und Menschen, die viel Geld haben, die meinen, sich alles kaufen zu können.

Sie hören die Botschaft: Wenn du deine Sehnsucht nach Gott das erste Mal spürst und entdeckst, dann gehe einen Schritt des Vertrauens. Gottes Gemeinnützigkeit gilt auch Dir. Gottes Großzügigkeit gehört auch dir! Seine Einladung gilt auch Dir!

 

IV.
Teil 4: Mit Nicht-Geld bzw. ohne Geld kaufen – was heißt das?

Das ist ein paradoxer Ausdruck. Worauf macht Gott uns mit diesem Stolperstein aufmerksam?

1.
Erste Antwort: Wir sind eingeladen, uns beschenken zu lassen.

Wir müssen Gott nicht beeindrucken. Weder mit guten Taten. Noch mit Selbstanklagen!

Wir müssen ihm nicht beweisen, dass wir es wert sind, dass wir seinen Segen verdient haben!

Wir dürfen Gott unser Vertrauen schenken! Ich sage es jedem von uns persönlich: Du kannst jetzt zu Gott sagen: Herr Jesus, ich öffne dir einen Raum des Vertrauens, den du einnehmen kannst, komm du zu mir und lass mich zu dir kommen.

2.
Zweite Antwort: Wir sind eingeladen, etwas herzugeben, etwas aufzugeben, etwas loszulassen.

Das Kaufen ohne Geld kostet doch etwas! Das kann für jeden von uns etwas anderes sein.

Das Kaufen ohne Geld kostet doch etwas! Das kann für jeden von uns etwas anderes sein.

Kaufen ohne Geld kann bedeuten, dass jemand unter uns sein Misstrauen Gott gegenüber hergeben muss, vielleicht auch sein Selbstmitleid.

Kaufen ohne Geld kann bedeuten, dass jemand unter uns seinen Stolz hergeben muss: Ich lasse mir von niemanden etwas schenken, dass jemand seinen Glauben an sich selbst hergeben muss, dass jemand seine Selbstgenügsamkeit (Ich brauche niemanden) und seine hochmütige oder verzweifelte Selbstgerechtigkeit (Ich bin gut) hergeben muss.

Kaufen ohne Geld kann bedeuten, dass wir unsere Angst vor Gottes Nähe loslassen müssen, unsere Angst vor Gottes Wort, vor Gottes Willen, dass wir unsere Angst um unsere Freiheit loslassen müssen!

3.
Dritte Antwort: Wir sind eingeladen, zu hören. Es geht um unser Hören.

Wie soll Gott uns beschenken, wenn wir nicht hören, was er sagt?

Hier im Text ist von den ewigen Gnaden Davids die Rede. Dazu könnten und müssten wir jetzt vieles sagen. Ich beschränke mich auf den Kern des Gedankens. Es geht um Gottes Zusagen, um Gottes Versprechen, um Gottes Verheißungen.

Der Glaube ist eine Beziehungsangelegenheit. Gott hat eine Beziehung zu uns. Wir haben eine Beziehung zu ihm. In einer Beziehung ist entscheidend, dass wir die Versprechen des anderen glauben. Deshalb rufe ich uns heute Morgen ins Vertrauen: Lassen wir gelten, was Gott uns verspricht! Lassen wir seine Zusagen gelten! Nehmen wir sie für bare Münze! Rechnen wir damit! Verlassen wir uns darauf, dass Gott hält, was er verspricht!

4.
Vierte Antwort: Wir sind eingeladen, unsere Schuld zu bekennen.

Im Gottesdienst kam dieser Punkt als Beichte vor dem Abendmahl. Beichte und Abendmahl wurden eingeführt von Jesu Ruf aus Mt 11,28, wo Jesus auf Jes 55,1-5 anspielt: Auf, kommet her zu mir alle, ihr Mühseligen und Beladenen; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernet von mir… und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen!