Liebe VI – Wie gehen wir mit den sog. Rachepsalmen der Bibel um? – Von Thomas Pichel

A.
Teil 1: Was machen wir mit folgenden Bibeltexten?

I.
Drei Beispiele: Ps 59; Ps 109; Ps 137,7
. Weitere Texte in den Ps 5,6,7,10,35,58,69!

Ps 59: 1 Ein güldenes Kleinod Davids, vorzusingen, nach der Weise »vertilge nicht«, als Saul hinsandte und sein Haus bewachen ließ, um ihn zu töten. 2 Errette mich, mein Gott, von meinen Feinden und schütze mich vor meinen Widersachern. 3 Errette mich von den Übeltätern und hilf mir von den Blutgierigen! 4 Denn siehe, HERR, sie lauern mir auf; Starke rotten sich wider mich zusammen ohne meine Schuld und Missetat. 5 Ich habe nichts verschuldet; sie aber laufen herzu und machen sich bereit. Erwache, komm herbei und sieh darein! 6 Du, HERR, Gott Zebaoth, Gott Israels, wache auf und suche heim alle Völker! Sei keinem von ihnen gnädig, die so verwegene Übeltäter sind. SELA. 7 Jeden Abend kommen sie wieder, heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher. 8 Siehe, sie geifern mit ihrem Maul; Schwerter sind auf ihren Lippen: »Wer sollte es hören?« 9 Aber du, HERR, wirst ihrer lachen und aller Völker spotten. 10 Meine Stärke, zu dir will ich mich halten; denn Gott ist mein Schutz. 11 Gott erzeigt mir reichlich seine Güte, Gott lässt mich auf meine Feinde herabsehen. 12 Bringe sie nicht um, dass es mein Volk nicht vergesse; zerstreue sie aber mit deiner Macht, Herr, unser Schild, und stoß sie hinunter! 13 Das Wort ihrer Lippen ist nichts als Sünde; darum sollen sie sich fangen in ihrer Hoffart mit all ihren Flüchen und Lügen. 14 Vertilge sie ohne alle Gnade, vertilge sie, dass sie nicht mehr da sind! Lass sie innewerden, dass Gott Herrscher ist in Jakob, bis an die Enden der Erde. SELA. 15 Jeden Abend kommen sie wieder, heulen wie die Hunde und laufen in der Stadt umher. 16 Sie laufen hin und her nach Speise und murren, wenn sie nicht satt werden. 17 Ich aber will von deiner Macht singen und des Morgens rühmen deine Güte; denn du bist mir Schutz und Zuflucht in meiner Not. 18 Meine Stärke, dir will ich lobsingen; denn Gott ist mein Schutz, mein gnädiger Gott.

Ps 109: 1 Gott, mein Ruhm, schweige nicht! 2 Denn sie haben ihr gottloses Lügenmaul wider mich aufgetan. Sie reden wider mich mit falscher Zunge / 3 und reden giftig wider mich allenthalben und streiten wider mich ohne Grund. 4 Dafür, dass ich sie liebe, feinden sie mich an; ich aber bete. 5 Sie erweisen mir Böses für Gutes und Hass für Liebe. 6 Gib ihm einen Gottlosen zum Gegner, und ein Verkläger stehe zu seiner Rechten. 7 Wenn er gerichtet wird, soll er schuldig gesprochen werden, und sein Gebet werde zur Sünde. 8 Seiner Tage sollen wenige werden, und sein Amt soll ein andrer empfangen. 9 Seine Kinder sollen Waisen werden und seine Frau eine Witwe. 10 Seine Kinder sollen umherirren und betteln und vertrieben werden aus ihren Trümmern. 11 Es soll der Wucherer alles fordern, was er hat, und Fremde sollen seine Güter rauben. 12 Und niemand soll ihm Gutes tun, und niemand erbarme sich seiner Waisen. 13 Seine Nachkommen sollen ausgerottet werden, ihr Name soll schon im zweiten Glied getilgt werden. 14 Der Schuld seiner Väter soll gedacht werden vor dem HERRN, und seiner Mutter Sünde soll nicht getilgt werden. 15 Der HERR soll sie nie mehr aus den Augen lassen, und ihr Andenken soll ausgerottet werden auf Erden, 16 weil er so gar keine Barmherzigkeit übte, sondern verfolgte den Elenden und Armen und den Betrübten, ihn zu töten. 17 Er liebte den Fluch, so komme er auch über ihn; er wollte den Segen nicht, so bleibe er auch fern von ihm.

Ps 137,7: Herr, vergiss den Söhnen Edoms nicht, was sie sagten… – Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!

 

II.
Was sagen wir zu diesen Texten?

Was ist mit Mt 5,43ff: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“?

Was mit Mt 18,22, wo Jesus sagt, wir sollen 7x70mal, also immer vergeben?

Was ist mit 1 Kor 13,5-7: „Die Liebe lässt sich nicht erbittern. Sie rechnet das Böse nicht zu. Sie erträgt alles!“? Was mit der Jahreslosung: “Alles geschehe in Liebe”?

Was sagen wir Nichtchristen, die auf diese Texte stoßen, die uns mit ihrem Eindruck konfrontieren, das sei dasselbe wie die Kriegssuren des Korans? Was sagen wir ihnen, wenn sie uns fragen, wie wir angesichts solcher Texte der Bibel Autorität zubilligen können?

 

III.
Wie schaut der Umgang der Kirchen mit diesen Texten aus?

1.
Hier einige Stimmen von Christen!

Furchtbare Fluchpsalmen. Voll der entsetzlichsten Verwünschungen, in denen sich eine wilde Phantasie austobt.

Was hat das mit dem Geist Jesu zu tun? Was hat das mit dem Hohen Lied der Liebe in 1 Kor 13 zu tun?

Solche Hass- und Rachegelüste sind wahrhaftig nicht vom Geiste Gottes inspiriert. Sondern das offenbart den giftig-schwelenden Herzenspfuhl des unerlösten Menschen. Wären solche Hassausbrüche aber von Gott inspiriert – oh welch eine Absonderlichkeit!

Das beten wir nicht mehr! Das ist Altes Testament! So darf man als Christ auch nicht beten! Wir sind zur Feindesliebe aufgerufen!

2.
Wie gehen die homiletischen und liturgischen Kommissionen mit diesen Texten um, die offizielle Predigttexte und liturgische Texte für Gesang- und Gebetsbücher verantworten?

Man übt, wenn man so will, Zäsur. Man übergeht diese Texte. Man ignoriert sie.

3.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie Kirchen, wie wir als Christen mit diesen Texten umgehen können:
(1) Wir können sie ignorieren.
(2) Wir können sie abwerten.
(3) Oder wir können uns der Herausforderung stellen und fragen: Warum und wozu stehen diese Texte in der Heiligen Schrift? Diese dritte Option schlage ich uns vor.

 

B.
Teil 2: Vom Sinn und Wert der Vergeltungspsalmen

1.
Diese Psalmen nehmen uns in die Opferperspektive mit hinein.

Diese Texte sind keine theoretischen Überlegungen, keine dogmatischen Seminararbeiten, sondern ein menschliches Aufschreien in extremer Not.

Das Thema dieser Psalmen ist das Leiden von gedemütigten und gequälten Menschen in furchtbaren Extremsituationen. Hier beten Menschen, die rücksichtslosen Gewaltmenschen ausgeliefert sind, die keine Chance gegen deren Interessen und Methoden haben. Diese Psalmen stehen in der Bibel für Menschen, die Opfer von brutaler Gewalt, von himmelschreiendem Unrecht, von schwersten seelischen und körperlichen Misshandlungen geworden sind.

Diese Texte geben den unzähligen Opfern eine Stimme. Diese Texte nehmen die Opfer wahr. Sie würdigen sie dadurch. Der Zusammenhang dieser Texte ist die Frage nach Wahrheit und nach Recht und Gerechtigkeit. Diese Fragen werden in der Bibel sehr ernst genommen.

2.
Wir sollten den Begriff Rachepsalmen streichen.

Diese Texte sind Gebete! Die Beter üben keine Rache, sie verüben keine Selbstjustiz, sie nehmen die Vergeltung nicht selbst in die Hand.

Es sind Bittpsalmen, die sich an Gott wenden und die um Rettung bitten, weil Menschen sich gegen ihre Ankläger, Peiniger, Unterdrücker, Vergewaltiger… Feinden nicht schützen können. Die, die diese Texte beten, wissen: Nur Gott kann dem Unrecht Einhalt gebieten. Nur Gott kann mich vor meinen Feinden retten. Nur Gott kann mich aus meiner Situation befreien.

Die Beter überlassen und überantworten die Vergeltung allein Gott. Sie bitten um Gottes Vergeltung. “Wo alles gegen Gott spricht, sprechen die Beter und Beterinnen alles zu Gott. Sie adressieren ihre Wut nicht an ihre Gegner und Feinde, sondern sie kommen damit vor Gott.” (Zenger)

Das hebräische Wort Vergeltung hat die Logik, dass eine böse Tat beendet wird, indem sie den Täter als Strafe und Leiderfahrung trifft, so dass das Leid seiner Opfer beendet. Wenn der Täter dann noch zur Besinnung und Umkehr findet, wäre das umso besser.

Fußnote: In Ps 137 wird eine Grenze erreicht, wenn der Beter sich in seinem Kopf-Kino folgende grausame Szene ausmalt: Wohl dem, der deine Kinder nimmt und am Felsen zerschmettert…

3.
Wir werten aus: Zum Beten gehört auch das Schreien!

Es gibt innerhalb unseres Betens Lob, Dank und Fürbitte. Aber es gibt innerhalb unseres Betens auch das Schreien von misshandelten Menschen, denen Furchtbares von anderen Menschen angetan wird.

Kein Betender muss seine Wut unterdrücken oder in sich verschließen! Vor Gott darf auch unsere Wut laut werden. Vor Gott darf auch unser Schreien nach Gerechtigkeit laut werden. Denn Gott ist der Anwalt aller Opfer!

Unser Schreien soll, muss und darf zu Gott kommen. Wenn es nicht zu Gott kommt, frisst es sich in unsere eigene Psyche ein.

Wie bedenklich ist das eigentlich, wenn wir nicht mehr aufschreien! Was ist eigentlich los mit uns, was ist mit uns geschehen, dass wir solche Schreie nicht mehr wagen?

Unsere Gebete brauchen neben dem schönen Beten (Lob und Anbetung) auch die Bitte um das Recht. Sonst ist unser Beten nicht wahrhaftig, sondern schizophren.

Diese Gebete sind aufrichtig und authentisch. Menschen schreien inmitten von Feindschaft und Ungerechtigkeit ihren Wunsch nach Vergeltung, nach Recht, nach Gerechtigkeit hinaus.

“Diese Psalmen sind ein Weg, den aggressiven Feindbildern ihre Destruktivität zu nehmen und sie in konstruktive Kraft umzuwandeln. Weil sie tiefe Ängste aussprechen, nehmen sie ihnen ein Stück der Kraft. Diese Psalmen haben einen therapeutischen Effekt.” (Oeming)

 

C.
Teil 3: Konsequenzen für unseren Umgang mit Opfern von Unrecht und Ungerechtigkeit

1.
Wie ist das aber nun mit der Feindesliebe und der Vergebung?

(1)
Bitte gegenüber Opfern von Unrecht und Ungerechtigkeit nicht zu schnell von Feindesliebe reden! Man kann Menschen dadurch zum zweiten Mal zum Opfer machen!

Und machen wir uns klar, was Feindesliebe nicht ist und was sie ist!

Feindesliebe heißt nicht, dass ich mich mit dem Feind versöhne. Auch wenn es Versöhnung zwischen Feinden gibt. Feindesliebe heißt auch nicht, dass ich für den Feind Verständnis habe. Feindesliebe heißt auch nicht, dass ich positive Gefühle im Blick auf meinen Feind habe. Feindesliebe verzichtet nicht auf die Frage von Recht und Gerechtigkeit.

Was ist dann Feindesliebe? Feindesliebe beginnt mit dem Verzicht, dass ich mich räche an meinem Feind, dass ich meinem Feind schade. Feindesliebe ist das Wunder, dass ein Opfer dem Täter vergibt, dass ein Opfer dem Täter Gutes will und Gutes tut, dass ein Christenmensch für einen Menschen betet und diesen segnet, der ihm schweres Unrecht angetan hat.

(2)
Aber: Bitte gegenüber Opfern von Unrecht und Ungerechtigkeit nicht zu früh von Vergebung reden! Man kann Menschen dadurch eine zweite Verletzung zufügen!

Wenn jemand schwerstes Unrecht erlitten hat, wenn jemand in einem Verletzungsvorgang noch drinsteckt, wenn das Selbstbewusstsein eines Menschen zerstört ist, wenn jemand sich vor dem Verletzenden nicht schützen und von diesem nicht abgrenzen kann, dürfen wir nicht von Vergebung reden!

Und machen wir uns klar, was Vergebung ist und was sie nicht ist!

Vergebung heißt nicht, dem anderen zu verzeihen und dabei alle Grenzüberschreitungen, Unrecht und Missbrauch zu dulden und zuzulassen.

Vergebung heißt, dass ich bei dem, der an mir schuldig wurde, auf Rache verzichte, dass ich seine Schuld in Gottes Hände lege, aber ich verhindere durch Grenzen, dass der andere weiter an mir schuldig wird.

Wie viel Unglück gibt es in Ehen, weil Menschen auf Grund einer falsch verstandenen Vergebungsbereitschaft Missbrauch erduldeten und dabei zugrunde gingen, statt starke und wirksame Grenzen zu ziehen!

Wie viel Not gibt es in Gemeinden, weil Menschen Machtmenschen erdulden, statt die Täter mit ihrer Schuld zu konfrontieren und wirksame Grenzen zu ziehen.

2.
Wenn mein Nächster das Opfer ist

Wo habe ich anderen zusätzlich Leid zugefügt, weil ich sie als Opfer nicht wahrgenommen und ihr erlittenes Unrecht nicht ernstgenommen habe, weil ich viel zu schnell von Vergebung gesprochen habe?

Wo hätte ich mehr Zorn wagen müssen, um meine Stimme für ihr Recht zu erheben? Wo hätte ich etwas riskieren müssen, um andere zu schützen?

Exkurs: Üben wir das Formulieren von Gebeten aus der Opferperspektive!

Geben wir dem Gebet einer Frau Worte, die auf dem Heimweg verfolgt und vergewaltigt wurde.

Formulieren wir ein Gebet eines Menschen, der zitternd das Großraum-Büro betritt, weil über ihn Lügen verbreitet und seine Schwächen lächerlich gemacht werden…

Formulieren wir ein Gebet eines Asylbewerbers, der auf Nothilfe angewiesen ist und der einer Behördenwillkür ausgeliefert ist!

3.
Wenn ich das Opfer bin

Wir können uns zwei Fragen stellen. Frage 1: Wo wurde ich tief verletzt? Frage 2: Wo wurde mir eine zusätzliche Last aufgebürdet, weil ich als Opfer gar nicht gesehen und ernst genommen wurde?

Wir dürfen diese Psalmtexte annehmen! Wir dürfen in Freiheit Gott all unsere Reaktionen auf Unrecht, auf Kränkungen, auf Beleidigungen, auf Mobbing… anvertrauen: unsere Kränkung, unsere Fassungslosigkeit, unsere Wutgefühle, unsere Tränen, unsere Rachegedanken…

Diese Texte annehmen, heißt ja nicht, dass ich sie beten muss, aber ich übernehme die Verse, die ich gewissensmäßig beten kann, die ich von meiner Verletzung her beten muss…

Vorsicht! Man kann das übertreiben! Bitte nicht bei jedem Konflikt sich zum Opfer hochstilisieren!

 

D.
Teil 4: Unser Trost und unsere Hoffnung. Wir fliehen im Gebet zu Jesus Christus

1.
Was für ein Mensch! Was für ein Gott! – Jesus betete am Kreuz für seine Feinde: Vater, vergib ihnen. Denn sie wissen nicht, was sie tun! (Luk 23,34). Jesus rief nicht nach Rache. Er segnete die, die ihm furchtbares Unrecht antaten. Er vergab ihnen.

2.
Wir haben einen Hohenpriester, der mit uns mitleidet (Hebr 4,15). Worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden (Hebr 2,18).

3.
Jesus schrie am Kreuz zwei Gebete, die für alle Opfer gedacht sind, die eine Hilfe für alle Opfer sein können.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) Mein Gott, mein Gott, warum hast du diesen Menschen über mich kommen lassen? Mein Gott, mein Gott, warum hast du das zugelassen?

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Luk 23,46). Vater, ich befehle meine Wut, meine Bitterkeit in Deine Hände. Ich befehle meine Szenenspiele in deine Hände! Behandle Du mich! Vater, ich befehle meine Hilflosigkeit in deine Hände. Hilf mir, wie ich es brauche! Vater, ich befehle meine Situation in deine Hände! Tue Du das mir Unmögliche und Nötige! 

4.
Und was ist unsere Hoffnung?

Dass Gott unsere Bitterkeit in Traurigkeit verwandelt. Denn mit Bitterkeit kann man nicht leben, mit Traurigkeit schon. Dass Gott unsere Rachegelüste heilt. Dass Gott uns Frieden schenkt. Amen!