Liebe VII – Was Liebe (nicht) tut – Von Thomas Pichel

A.
Teil 1: 1 Kor 13,1-3


1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. 

1.
Es gab ein Problem, das wir gut kennen. Begabungen und Fähigkeiten von uns Menschen haben oft trennende Wirkung. Die Begabten sind gefährdet, auf die herabzusehen, die nicht so begabt, befähigt und vermögend sind. Die Minderbegabten sind gefährdet, neidisch auf die zu reagieren, die vom Gaben-Kuchen größere Stücke bekommen haben.

Es gab in Korinth Christen mit charismatischen Begabungen. Die einen hatten die Gabe der Glossolalie; die anderen die Gabe der Heilung bzw. die Gabe, Wunder zu tun; wiederum andere die Gabe der Prophetie.

Die mit den charismatischen Begabungen, die mit den spektakulären Begabungen bildeten sich etwas ein. Das Ergebnis war verheerend. Die Gaben wirkten nicht konstruktiv, sondern destruktiv.

2.
Wie geht Paulus vor? Paulus sagt den Korinthern und damit uns heute dreimal, dass ohne die Liebe alles nichts ist, dass die Liebe das Basis-Charisma für allen Gebrauch unserer Gaben und Fähigkeiten, für all unsere Verhaltensweisen ist.

Liebe bzw. zu lieben ist wichtiger als die vollkommene Praxis aller Geistesgaben. Sie ist die Grundlage der Charismen, nicht ihre höchste Stufe.

a.
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, d.h. wenn ich alle Künste der Rhetorik beherrschte, wenn ich in der champions league der besten Redner spielte, wenn ich die Gabe der Glossolalie hätte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle, so könnte ich beeindruckende und unüberhörbare dunkle und hohe Töne hervorbringen, aber mehr auch nicht. Ich könnte nicht mit anderen zusammenspielen. Ich könnte kein Lied spielen. Ich wäre ein Solo-Künstler, der nur sich selbst kennt und sucht und viel Lärm um Nichts, nämlich um seine Performance machte.

b.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. 

Wenn ich alle Erkenntnis über die Geheimnisse dieser und jener Welt hätte, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich ein Nichts, weil alle Wahrheit für sich genommen ohne die Liebe vor Gott nichts zählt. Wenn ich alle Glaubensgewissheit hätte, wenn ich im Glauben Wunder bewirken oder erleben würde, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich ein Nichts, weil ein Glaube, der nicht liebt, im Tiefsten selbstherrlich und selbstsüchtig ist.

c.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

Wenn ich meinen Besitz für Arme aufgäbe und hergäbe (wörtlich: zerbröckeln), ja wenn ich für Jesus mein Leben als Märtyrer opferte, hätte aber die Liebe nicht, würde Gott nur zum Schein, in Wirklichkeit aber nicht lieben, wäre ich ein Nichts, weil ich es dann um meiner selbst willen täte, weil ich dabei auf extreme Weise doch wieder nur an mich dächte.

3.
Wir fassen zusammen:

Paulus verankert unser geistliches Leben in der Liebe. Er unterwirft unsere Gotteserfahrungen, unser Bibelauslegen, unsere Mitarbeit… dem Maßstab der Liebe. Wenn die Liebe zu Gott und zu Menschen fehlt, fehlt alles!

Die Liebe ist die „unverzichtbare Voraussetzung“, die „alle anderen Gaben erst zu dem macht, was sie sind“. Ohne die Liebe „laufen alle Gaben Gefahr, sich in Selbstdarstellung zu erschöpfen“ (Böttrich, aa0). Ohne Liebe gilt ein Christ mit all seinen Begabungen und Vorzügen, mit all seiner Mitarbeit vor Gott nichts.

In 1 Kor 12,7 sagt Paulus: Der Heilige Geist offenbart sich in seinen Gaben „zum Nutzen aller“. Das entscheidende Kriterium ist die Liebe, d.h. der allgemeine Nutzen für alle, nicht der persönliche Gewinn, nicht die selbstbezogene Eitelkeit, nicht die eigene Selbstzufriedenheit, nicht der persönliche Besonderheitskult, nicht die eigene Geltungs- oder Herrschsucht!

Paulus verankert damit unser ganzes Leben in der Liebe. Er sagt uns hier sehr Grundsätzliches über unser Leben, „nämlich, dass ein Leben Sinn und Wert nur hat, sofern Liebe in ihm ist, und dass ein Leben nichts ist, gar nichts ist und keinen Sinn und Wert hat, wenn keine Liebe in ihm ist… Nichts, wirklich gar nichts ist lebenswert ohne Liebe; aller Sinn des Lebens ist erfüllt, wo Liebe ist“ (Dietrich Bonhoeffer, Brevier, 7. Juli)


B.
Teil 2: 1 Kor 13,4-7: Das hohe Lied der Liebe

»Die Liebe hat den langen Atem, sie ist gütig, sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, sie ist nicht taktlos, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht zum Zorn reizen, sie rechnet das Böse nicht an, sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich mit an der Wahrheit. Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.«

I.
Wir sehen: Liebe ist keine Theorie, keine Gefühlsduselei.

Paulus gibt hier keine Definition der Liebe. Er beschreibt ihr Tun. Die Verse enthalten 15 Tätigkeitswörter. Das heißt: Die Liebe hat Betätigungsfelder. Sie ist kreativ und aktiv.

Das entspricht Gal 5,6, wo Paulus von dem Glauben spricht, der in der Liebe tätig ist. Der Glaube erschöpft sich also nicht in frommen Floskeln, sondern wird in konkreten Handlungsweisen tätig.

Wie kommt diese Liste zustande?

Ich bin überzeugt, dass diese Liste zeitlos ist, für jede Gemeinde und für jeden Christen wichtig und wesentlich ist. Und doch folge ich den Auslegern, die behaupten, dass Paulus hier den Christen in Korinth den Spiegel vorhält, dass Paulus sozusagen eine Analyse der Frömmigkeit und der Verhaltensweisen der Christen von Korinth vornimmt.

Paulus vergleicht: Was die Korinther tun, die Liebe aber nicht tut. Was die Korinther leider nicht tun, aber die Liebe tut.

Im Bild gesagt: Man kann von der verordneten Medizin zurück schließen auf die „Krankheiten“ (Schwächen, Defizite, Sünden) der Christen in Korinth. Paulus nennt diejenigen positiven wie negativen Dinge, die im Blick auf die Christen in Korinth wichtig sind. Er zählt also nicht wahllos auf, sondern stellt seine Aussagen bewusst und gezielt zusammen.

 

II.
Der Aufbau von 1 Kor 13,4-7: Was die Liebe tut und nicht tut.

1.
Die fünfzehn genannten Merkmale lassen sich folgendermaßen ordnen:

In der Mitte des Abschnitts werden acht Verhaltensweisen genannt, die mit der Liebe unverträglich sind. Paulus macht klar, was die Liebe nicht tut.

Sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, sie ist nicht taktlos, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht zum Zorn reizen, sie rechnet das Böse nicht an, sie freut sich nicht über das Unrecht.

Egozentrik und feindseliges Verhalten gegenüber anderen sind mit der Liebe unvereinbar.

2.
Paulus rahmt die abgewehrten Verhaltensweisen mit positiven Einstellungen und Verhaltensweisen. “Die Liebe hat den langen Atem, sie ist gütig… Sie freut sich an der Wahrheit.” Paulus beginnt also positiv und endet positiv. Er macht klar, was die Liebe tut.

Geduld und Freundlichkeit, eine zugewandte und wohlwollende Einstellung und auch: Freude an der Wahrheit. Denn Liebe lebt aus der Selbstmitteilung und Offenbarung Gottes.

3.
Als Abschluss fasst Paulus die Liebe in vier grundsätzlichen Haltungen, in vier umfassenden Alles-Aussagen zusammen: Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe ist eine Haltung des Ertragens, Glaubens, Hoffens und der Geduld.

 

III.
Drei Stichproben. Oder: Wir zoomen uns näher heran

1.
Die Liebe ist langmütig (makrotymia = den langen Atem haben). Sie hat Mut für die langen Wege.

Paulus fällt als erstes „die Langmut“ ein. Die Liebe ist zäh und ausdauernd. Sie verliert nicht so schnell das Interesse an Menschen. Es schaut so aus, dass die Korinther für eine Neigung von uns Christen stehen, dass wir nämlich zur Kurzatmigkeit im Glauben und zur Schnellabfertigung von Menschen neigen.

Die Liebe zu Menschen reflektiert die barmherzige und geduldige Treue Gottes zu mir, zu jedem Menschen. Sie lässt anderen Zeit, gibt ihn nicht auf, ist nicht mit ihm fertig, auch wo sie Grund dazu hätte, wo sie z.B. gekränkt und verletzt wurde. Sie hält also Fehlschläge aus. Sie ist widerstandsfähig gegen Enttäuschungen.

Wer viel Großartiges mit Gott erlebt hat, wer große Erkenntnisse hat, der ist häufig auf Ergebnisse ausgerichtet. Da kann man sich schon schwer tun mit schwierigen und unbequemen Menschen, die sich nicht so schnell öffnen, die Widerstand zeigen.

Wie sprechen wir von Menschen, bei denen wir nicht unser gewünschtes Ergebnis erreichen, die sich nicht so leicht einladen lassen, die wieder wegbleiben?

Es geht um langfristige Beziehungen, in denen es auf Kontinuität, auf Bewältigung der Alltagsdinge und um das zähe Ringe um kleine Verbesserungen geht.

Das gilt für das Zusammenleben mit dem Ehepartner, den Kindern, den Eltern, den Nachbarn, den Berufskollegen.

2.
Die Liebe eifert nicht.

Sie siedet nicht in fanatischen Leidenschaften, die Beziehungen zerstören.

Sie ist nicht von Neid, Eifersucht, Zudringlichkeit und Fanatismus erfüllt. Sie ist frei von der Verabsolutierung der eigenen Meinung, Auffassung, Position… Sie ist frei von egoistischen (verschwiegenen) Eigeninteressen.

Es ist kein Zufall, dass Paulus das bringt. Der von Gott Gesegnete, derjenige, der etwas Außergewöhnliches mit Gott erlebt hat, der etwas für Gott will, der neigt zum Eifern.

Was sind Kennzeichen von Eiferern, von fanatischen Menschen?

Eifernde Menschen wollen nicht automatisch etwas Schlechtes, sondern oft etwas Gutes und Richtiges, aber auf eine falsche Art und Weise. Sie gehen falsche Wege. Der gute Zweck, das richtige Ziel heiligt für sie die Mittel. Eifernde Menschen sind blind – für das angemessene Vorgehen, den passenden Zeitpunkt, den richtigen Stil, den richtigen Ton, die kleinen menschlichen Nuancen.

Sie sind blind für die eigenen Schwächen und Grenzen. Sie können sich selbst nicht relativieren. Sie können sich selbst nicht kritisch sehen. Ihnen fehlt der Humor. Für sie ist es unerträglich, wenn andere ihre Schwächen sehen, belächeln, bereden.

Sie sind immer gefährdet, fanatisch zu sein. Sie sind fixiert auf ihre Überzeugungen und Ansichten. Sie handeln oft unduldsam und aggressiv. Andersdenkende, Andersglaubende, Andershandelnd werden oft als bedrohliche Gegner oder gar als Feinde gesehen.

Wie kommt es zum religiösen Eifer? Die Neigung des Eifernden ist: Gott hat mich berufen. Er hat mich mit seinem Geist erfüllt. Er hat mir Geistesgaben gegeben. Er hat mir Erkenntnisse geschenkt. Also vertrete ich Gottes Standpunkt. Also habe ich Gott auf meiner Seite. – Wer anders denkt als ich, zeigt, dass er noch nicht so weit ist wie ich, ja dass er gegen Gott ist.

3.
Die Liebe handelt nicht unschicklich, verhält sich nicht ungehörig, ist nicht taktlos

Sie ist nicht ohne Anstand, nicht taktlos, nicht stillos…

Sie respektiert Schranken und Grenzen… Sie nimmt Rücksicht auf andere: auf die Situation des anderen, auf die Gefühle des anderen, auf die Geschichte des anderen.

Paulus spricht eine Gefahr von allen gesegneten Christen an: Man erlebt Beeindruckendes. Man erfährt Bestätigung durch Gottes Segen. Also darf man sich auch gewisse Dinge herausnehmen.

Wer Gott gefallen will, und nicht den Menschen, ist in der Gefahr, taktlos, geschmacklos und stillos zu werden.


C.
Teil 3: Das Evangelium

I.
Wie kommt Paulus darauf, von der Liebe wie von einem Handlungssubjekt, ja wie von einer Person zu reden?

Paulus würde uns antworten: Weil ich vor Damaskus der Liebe in Person begegnet bin. Das ist meine Erfahrung vor Damaskus, als ich die Christen verfolgte und dem auferstandenen Jesus begegnet bin. Ich bin damals zwar vom Pferd gestürzt, aber es war eine unglaubliche Erfahrung einer unglaublichen Liebe!

Ich habe den Glauben an Jesus Christus bekämpft und verfolgt. Ich war hoch-religiös, aber ich lebte meine Frömmigkeit ohne und gegen die Liebe. Aber der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus wurde meine alles verändernde Liebes-Erfahrung. Ich erlebte seine Vergebung. Ich erlebte seine Feindesliebe. Er nahm mich an – ohne Strafe, ohne Vorbehalte, im Anvertrauen einer großen Aufgabe.

Wir dürfen deshalb die Liste der Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die Paulus in 1 Kor 13,4-7 über die Liebe aufgestellt hat, auf uns beziehen und für uns glauben. Deshalb sage ich uns jetzt dieses Evangelium zu:

Jesus ist dir gegenüber langmütig und freundlich. Jesus eifert nicht dir gegenüber. Jesus treibt nie Mutwillen mit dir. Jesus bläht sich nicht auf, um dich zu entwerten. Jesus verhält sich nicht ungehörig zu dir. Jesus sucht nicht das Seine. Er sucht bei dir nicht das Seine, nicht sein Rechthaben, nicht seine Ruhe… Er lässt sich nicht erbittern, er rechnet das Böse, das du zu verantworten hast, dir nicht zu. Jesus freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, Jesus freut sich aber an der Wahrheit, z.B. über deine Ehrlichkeit. Jesus erträgt alles, Jesus glaubt alles, Jesus hofft alles, Jesus duldet alles.


II.
Wie kommt Paulus darauf, sich selbst, den Korinthern und uns selbst den Auftrag zu geben, so zu lieben, diese Art von Liebe zu versuchen?

Paulus ist nicht naiv. Er ist realistisch. Aber das heißt auch, dass er um die Kraft des Heiligen Geistes weiß.

Die Liebe ist eine Gabe, eine Wirkung des Geistes Gottes. Dieser Satz enthält den Moment der Ermöglichung. Dieser Satz befreit von aller billigen Ausrederei! Dieser Satz befreit aber auch von aller Selbstüberforderung.

Es gibt viel zu lieben. Bitten wir um das Wirken des Geistes! Versuchen wir es immer wieder neu! Auch wenn wir immer wieder scheitern werden! Amen!