Psalm 23 – Teil 1: Göttliche Hirtenjobs und menschliche Schafaufgaben – Von Thomas Pichel

1 Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 

2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. 

3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 

4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 

5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar. 

 

I.
Psalm 23 wimmelt von Evangelien, also von guten Nachrichten

1.
Der Psalm 23 beschreibt, was Gott für David ist, was Gott tut, wer Gott ist: Der Herr ist mein Hirte. Wörtlich: Jahwe ist mein Hirte.

2.
Vers 1 ist die Überschrift des Psalms, der Schlüsselvers. Alle anderen Verse beschreiben, was das praktisch heißt, dass Gott Davids Hirte ist, welche Folgen das hat.

Und weil Gott der Hirte Davids ist, mangelt ihm nichts.

Der Herr ist mein Hirte. Deshalb werden mir Gutes und Barmherzigkeit folgen mein Leben lang. Deshalb werde ich bleibe im Haus des Herrn bzw. werde ich zurückkehren ins Haus des Herrn.

Der Psalm malt uns Gott als Hirten vor Augen. Das ist unendlich entlastend und befreiend, heilend und heilvoll, tröstend und ermutigend.

3.
Gott ist in den unterschiedlichsten Situationen unser Hirte.

Der Psalm spricht von schönen, guten, herrlichen, üppigen Zeiten. Gott ist in diesen Zeiten der gute Hirte und der gute Wirt. Er spricht von dunklen, schweren Zeiten. Gott erspart uns solche Zeiten nicht. Aber er sorgt dafür, dass sie vorübergehen.

4.
Gott ist in den unterschiedlichsten Lebensthemen unser Hirte. Der Psalm 23 spielt auf verschiedensten Themen an: Führung und Orientierung. Lebensfreude. Nahrung für die Seele. Gefahr für Leib und Leben. Anfechtungen. Gegner und Feinde. Erwählung, Trost und Hoffnung.

 

II.
Die Aufgaben des Hirten sind Evangelien, also gute Nachrichten.

Welche Aufgabe hatte ein Hirte in Israel zurzeit Davids und zurzeit Jesu? Ich skizziere nun diese Aufgaben und lade dazu ein, darüber nachzudenken, was das für unser Christsein bedeutet.
Wie dürfen wir von Gott denken? Was dürfen wir bedanken? Worum dürfen wir bitten? Worauf dürfen wir hoffen?

1.
Aufgabe 1: Die Führung der Herde, des einzelnen Schafes

Die Schafe in Israel haben beinahe keinen Orientierungssinn. Auch wenn es in einer Gegend ist, wo es schon oft war, findet es den Weg nicht zurück zur Herde, zum Hirten.

Man kann sich ja gegen dieses Bild wehren, weil man es als demütigend empfindet.

Man kann es sich aber auch gefallen lassen und überlegen: Wo kenne ich das, dass ich mich total verrannt habe? Wo kenne ich das, dass ich den Weg zum Vertrauen, zum Gebet, zur Freude über Gott nicht mehr finde?

2.
Aufgabe 2: Die Versorgung der Herde, des einzelnen Schafes.

Auch wenn die Übersetzung Luthers von einer grünen Aue spricht, müssen wir uns bewusstmachen, dass dieser Psalm nicht in England und nicht bei uns in Deutschland beheimatet ist. Im judäischen Bergland gibt es keine grünen Wiesen. Dieses Land ist mager an Vegetation.

Aber der Hirte weiß, wo es etwas zu fressen und zu trinken gibt. Er weiß um die Weidemöglichkeiten und um die Trinkmöglichkeiten.

Übertragen auf uns heißt das: Der Hirte Gott kennt sich aus in der Landschaft unseres Lebens. Er weiß, was wir brauchen und wo es zu finden ist. Er weiß es besser als wir.

3.
Aufgabe 3: Der Schutz nach außen.

Der Hirte muss seine Herde schützen. Gegen Schlangen, Wölfe, Löwen. Gegen Diebe. Deshalb hat er auch neben seinem Stecken, einen Knüppel, einen Stock als Waffe, um die Schafe zu verteidigen.

4.
Aufgabe 4: Die Pflege

Jedes Schaf ist anders. Jedes Schaf braucht etwas anderes: Mineralien. Salz. Salbe. Diese Pflege ist Aufgabe des Hirten. Deshalb ist es notwendig, dass der Hirte jedes Schaf einzeln kennt.

Exkurs: Wir sehen diese Hirtenjobs bereits in Hes 34,11-16.

Dieser Text beschreibt Gottes Hirtesein gegenüber seinem Volk. Ich liste die Stichwörter auf:

Das Zurückbringen der Verirrten.
Das Suchen der Verlorenen.
Das Stärken des Schwachen.
Das Pflegen des Kranken, Verbinden der Verwundeten
Das Begrenzen und Unschädlichmachen des Bösen
Das Befreien aus der Gewalt der schlechten Hirten.

Hes 34,11-15 ist machtkritisch: Die Mächtigen haben nur ihr eigenes Wohlergehen im Kopf, sie weiden sich selbst, bereichern sich auf Kosten des Volkes und vernachlässigen ihre Regierungsaufgaben.

 

III.
Was ist die Aufgabe eines Schafes? Was ist unsere Aufgabe?

1.
Der Psalm 23 beschreibt anschaulich und einprägsam, warum Gott unser Vertrauen verdient, warum Gott unser Hören verdient.

Unsere Aufgabe als Schaf ist das hörende Vertrauen bzw. das vertrauende Hören. Jesus sagt in Joh 10: Meine Schafe hören meine Stimme!

2.
Drei Impulse zur Frage: Wie kann ich das Hören auf Gottes Stimme lernen?

1.
Impuls 1: Es geht ums Aufhören! Hören auf Gott hat sehr viel mit Aufhören zu tun. Hören auf Gottes Stimme hat sehr viel mit der nötigen Kultur der Stille zu tun.

Jeder von uns kann sich fragen, was er aufhören muss, um überhaupt hören zu können: welchen Medienkonsum, welche Zerstreuungsflut, welche Dauerbeschäftigung…

2.
Impuls 2: Ich lerne das Hören, indem ich den biblischen Texten nachhöre, indem ich die Geschichten der Texte betrachte. Jede Geschichte der Bibel, jeder Text, jeder Bibelvers leben davon, dass darin seine Stimme hörbar wird.

Bibelwissen ist gut! Natürlich! Wissen ist also nichts Falsches. Natürlich nicht. Aber es ist nicht das Hauptkriterium. Das Hauptkriterium lautet, die Stimme meines Hirten so kennenzulernen, dass mir klar wird: Das ist er! Das sagt er! Oder dass mir klar wird: Nein. Das ist er nicht! So klingt seine Stimme nicht! So redet er nicht.

3.
Impuls 3: Ich lerne das Hören durch Übung, Übung und noch mal durch Übung.

4.
Impuls 4: Hilfreich dabei sind andere Christen. Die anderen Hörenden machen mich aufmerksam, was sie entdeckt haben. Ich kann den anderen mitteilen, was mir besonders aufgefallen ist. Sie können mich korrigieren, meinen Blick schärfen, meinen Horizon weiten, mich auf eine Sehschwäche aufmerksam machen. Selbst Andersdenkende sind hilfreich. Ich lerne von katholischen, charismatischen, reformierten Christen.

 

IV.
Eine seelsorgerliche Frage zum Schluss: Übertreibt David nicht, wenn er sagt: „Mir mangelt nichts“?

Vielleicht rebelliert es in uns, so dass wir sagen: Ich habe viel Mangel. Ich kann einiges aufzählen.

Auch dazu einige Gedanken:

1.
Ich kann diese Frage, diese Herausforderung nicht lösen. Ich weiß aber, dass Gott sich einer Diktatur der Gleichmacherei verweigert. Gott verteilt seine Dinge unterschiedlich.

2.
Psalm 23,1 ist ein Zeugnis, ein Bekenntnis. David sagt das von sich. Aber Ps 23,1 ist keine prinzipielle Wahrheit. Vielleicht gilt bei mir oder Dir, dass wir sagen müssen: „Ich kann das leider nicht sagen. Ich kann das zurzeit gar nicht sagen“?

3.
Vielleicht gilt mein Mangelempfinden nicht absolut?

(1)
Es gibt eine Tendenz in unserer Zeit, dass wir immer wieder die Stimme hören: Du hast Mangel. Du musst dich aufmachen, deinen Mangel zu stillen.

Jede Werbung spricht von meinem Mangel. Jede Werbung bietet mir etwas, mit dem ich angeblich meinen Mangel stillen kann.

Eine ganze Industrie lebt davon, dass mir mein Mangel bewusstwird und bewusst bleibt. Eine ganze Industrie lebt davon, dass ich das Gefühl habe: Ich habe nie genug. Und wenn dieses Gefühl in mir ist, kommt immer gleich der nächste Mangel, wenn ein Mangel gestillt ist.

Eine ganze Industrie lebt davon, dass immer von einem Riesen-Maß die Rede ist, das angeblich immer zu 100% für alle Menschen gelte. Aber das ist eine Lüge und eine Falle.

(2)
Wie kann ich mich angesichts dieser Problematik weise verhalten?

a.
Es ist hilfreich, wenn wir uns überlegen: Wer redet mir eigentlich ständig ein, dass ich Mangel habe, den ich unbedingt stillen muss?

b.
Und es ist sehr hilfreich, wenn wir uns überlegen: Wer sagt mir eigentlich, dass ich genug habe? Wer sagt mir, auf gute Weise: „Schön, du hast genug!“?

c.
Denn: Jeder von uns hat ein eigenes Maß. Es gibt kein Maß, das für alle gilt. Es gibt kein allgemein gültiges Maß für alle. Es gibt nur mein Maß. Es ist vielleicht größer als das von anderen, sicher auch kleiner als das von manch anderen.

Genug haben heißt nicht, ich verzichte auf dies oder jenes. Genug haben heißt: Ich habe mein Maß und dieses Maß wird gestillt.

Das Genughaben liegt daran, dass Gott, Jahwe, mein Hirte ist. Ich lerne durch ihn, mit ihm, genug zu haben.

Das entspricht der Aussage im hebräischen Vers 1 von Psalm 23. Die Denkrichtung und Logik von Ps 23,1 ist folgende: Ich werde nicht zu kurz kommen. Ich werde genug haben. Genug zum Leben. Genug für die Seele. Mag mir auch dieses und jenes fehlen.