Psalm 23 – Teil 3 – Der göttliche Ruhe-Schenker – Von Thomas Pichel

Ps 23,2: Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

 

A.
Teil 1: Einleitung: Welches Landschaftsbild haben wir, welches hatte David vor Augen?

Es sind Bilder von saftigem Grün und frischem Gras – so weit das Auge reicht.

Die Übersetzung Martin Luthers ist von der Sprache her genial. Sie ist leicht zu behalten. Sie malt ein nachvollziehbares Bild vor Augen.

Ich würde sie nicht als falsch bezeichnen. Das Problem ist nur, dass sie uns von der Landschaft Israels wegführt. David war Hirte auf dem Höhenzug des Gebirges Juda im Süden Israels. Das Gebirge Juda ist eher ein Mittelgebirge. Es ist hügelig. Es hat Höhen und tiefe Schluchten. An dieser Stelle werden im Gottesdienst Bilder vom Gebirge Juda gezeigt)

Der Boden ist steppenartig. Es hat wenig Vegetation. Es ist trocken. Staubtrocken. Es gibt keine Wiesen. Sondern Kräuter und Sträucher. Die Schafe fressen Kräuter. Die Ziegen Büsche mit Dornen.

Der Mangel an Weideplätzen und Wiesen führt dazu, dass der Hirte mit seinen Schafen ständig umherziehen muss. Es geht von einem Weideplatz zum nächsten. Oft über längere Strecken. Der Hirte, der die Aufgabe hat, die Herde in dieser mageren Vegetation zu versorgen, muss Bescheid wissen, wo es Weidemöglichkeiten gibt.

Auch der Mangel an Wasserstellen führt zu kürzeren oder längeren Wanderungen. Die Hirten müssen Bescheid wissen, wo es Wasser gibt, denn Wasser ist selten und notwendig für die Schafe. In England oder in Deutschland genügt den Schafen oft das saftige Gras. Im Gebirge Juda müssen die Schafe trinken.

Welche Möglichkeiten gibt es für Hirten, die Schafe mit Wasser zu versorgen?

Möglichkeit 1: Sie führen die Herde zu Brunnen mit Grundwasser oder zu Zisternen. Die aber sind selten.

Möglichkeit 2: Sie führen die Herde zu den sog. Wadis in den Talsohlen, die lange Zeit trocken, aber nach Regen oder Gewittern voll Wasser sind. Dort unten können die Schafe trinken, aber auch die dort wachsenden Gräser, Kräuter und Büsche fressen.

Wer Israel kennt, weiß, dass es im Bergland Juda eine einzige Quelle gibt, die das ganze Jahr über Wasser hat. Es ist En Gedi am Toten Meer.

Wir merken das auch an der wörtlicheren Übersetzung von Vers 2: Er lässt mich lagern auf einem fruchtbaren Platz, auf dem frisches Gewächs da ist. Zu Wassern der Ruhe führst du mich.

Wir fassen zusammen: David hat eine vollkommen andere Landschaft vor Augen, als es die schöne Lutherübersetzung (Stichwort „grüne Aue“) uns suggeriert. Die Botschaft lautet: Gott kennt sich mit unserer Lebenslandschaft aus. Er weiß, wo es für uns Weideplätze gibt.

Bevor wir uns der wörtlicheren Übersetzung zuwenden, möchte ich uns ein biblisches Thema vorstellen, das mit dem Stichwort „Ruhe“ berührt wird. Es ist das große Thema der Sabbatruhe in der Bibel. Es ist ein Zauberwort im Alten und Neuen Testament.

 

B.
Teil 2: Das biblische Thema der „Ruhe“ bzw. „Sabbatruhe“

1.
Hier eine kleine Auswahl von Aussagen zum Thema der „Ruhe“ bzw. „Sabbatruhe“.

2 Mo 33,14: Er sprach: Mein Angesicht soll vorangehen; ich will dich zur Ruhe leiten.

Jes 14,3: Und zu der Zeit, wenn dir der HERR Ruhe geben wird von deinem Jammer und Leid und von dem harten Dienst, in dem du gewesen bist

Jes 14,7: Nun hat Ruhe und Frieden alle Welt und jubelt fröhlich.

Mt 11,29: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

Hebr 4,9f: Es ist also noch eine Ruhe (wörtlich Sabbatfeier) vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zur Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken.

 

2.
Worum geht es bei dem Thema der Ruhe bzw. der Sabbatruhe?

Es geht um das große Ziel, die große Perspektive, die große Hoffnung unseres Lebens: die Sabbatruhe, die Sabbatfeier bei Gott und mit Gott.

a.
Die Sabbatfeier steht unter der Überschrift, dass etwas aufgehört hat, gottseidank endlich aufgehört hat und vorbei ist:

Ägypten hat aufgehört, das heißt: also alles, was uns knechtet und versklavt.

Die Wüste hat aufgehört, also alles Entbehrungsreiche und Notvolle.

Das „Im Schweiße deines Angesichts“ wird endlich aufgehört haben, alle Mühsal, aller Ärger, alle Unzufriedenheit, alle Vergeblichkeiten.

Die Werke haben aufgehört, aller Leistungsdruck, jeder Perfektionismus, jedes Gesetz, jedes Müssen…

b.
Die Sabbatfeier steht auch unter der Überschrift, dass endlich das Neue da ist, dass die Vollendung da ist:

Die neue Schöpfung. Das Reich Gottes. Frieden auf Erden.

Eine Ruhe ohne Langeweile.

„Eine mühelose Tätigkeit ohne Beschwerde und in vollster Leichtigkeit“ (Philo).

Ein Fröhlichsein, eine Freude, ein Feiern – ohne die Melancholie der Erfüllung…, ohne Langeweile, ohne Nebenwirkungen, ohne Kater…

 

3.
Wir müssen jetzt noch einen Gedanken ansehen, um endgültig zu wissen, welche Schatzkiste das Thema Ruhe für uns bedeutet!

Wie kommt es zu dieser Ruhe? Wer schenkt sie uns?

Das Thema der Ruhe, der Sabbatruhe ist im Judentum mit dem Messiasgedanken verbunden. Israel spricht über diese vollendete Sabbatfeier immer im Zusammenhang mit dem Kommen des Messias, der das Reich Gottes bringt, die Heilung der Völkerwelt, die Vollendung der Geschichte und der Schöpfung.

Der Messias wird die Zeit der Ruhe bringen, die Zeit der menucha. Die Zeit, in der alle Unruhe zur Ruhe kommen kann, weil es z.B. keine Feinde mehr gibt, keine Krisen und Kriege, keine Katastrophen und Unglücke, kein Suchen nach Essen und Trinken.

Israel nennt den Messias, auf das es wartet, manchmal menuchim. Die Bedeutung ist Ruhe-Messias, Ruhe-Mensch.

Die Kirche glaubt, anders als Israel, dass dieser Ruhe-Messias schon gekommen ist, dass er uns in Jesus schon nahegekommen ist, dass sein Reich im Verborgenen längst angefangen und im Kommen ist.

Die Kirche glaubt, dass dieser unsichtbar gegenwärtige Ruhe-Messias uns schon Erste Raten der verheißenen Ruhe geben will und kann. Diese Wasser der Ruhe sind eine Verheißung für uns. Nicht nur für die Ewigkeit. Damit sind wir bei der Aussage von Ps 23,2.

Fußnote: Diese Wasser sind ruhig. Sie sind das Gegenteil der Chaoswasser aus 1 Mo 1 und sie sind das Gegenteil des Meeres aus Offb 21,1.

 

C.
Teil 3: Was verspricht uns Psalm 23,2?

 

I.
Er lässt mich lagern und essen auf einem fruchtbaren Platz, auf dem frisches Gewächs da ist.

Es fallen zwei Details auf:

Detail 1: Die Farbe Grün kommt gar nicht vor. Das entspricht den Farben, die es im Bergland von Juda gibt. Wir haben die Bilder gesehen. Aber es ist frisches Gewächs da, als wohlschmeckend und bekömmliche Nahrung!

Ein zweites Detail ist bedeutsamer: David sagt nicht: Er lässt mich essen und trinken. Von Essen und Trinken ist nicht die Rede! Obwohl man das natürlich darf! David zeichnet auch nicht den Vergleich: Endlich Wasser! Trinkt endlich! Endlich saftiges Gras! Esst schnell! Solange es das gibt! Wer weiß, wann es wieder etwas gibt!

David sagt: Gott lässt mich lagern! Gott bettet mich! In eine saftige Umgebung hinein! Gott lässt mich ausruhen! Er führt mich an einen Ort, wo ich wie bei einem Picknick ruhen und genießen kann!

Wenn wir das uns vergegenwärtigen, verstehen wir auch, was uns in Joh 6,10 gesagt wird: Jesus sagt in der Geschichte von der Speisung der 5000 zu den Jüngern: Lasst die Leute sich lagern! Es war aber viel Gras an dem Ort. Dieser Satz nimmt Ps 23,2 auf! Dieser Satz zeigt uns Jesus als den Ruhe-Messias.

Wir halten fest: Gott ist der, der mich bettet. Gott ist der, der mich aus meiner Unruhe (Suchen des Weges, Fressenmüssen…) zur Ruhe führt. Gott geht so mit uns um, behandelt uns so, dass wir zur Ruhe kommen, zur Ruhe finden können. Damit kommen wir zum zweiten Halbvers von Ps 23,2.

 

II.
Er führt mich zu Wassern der Ruhe.

1.
Wir haben weiter oben gesagt, dass Gott uns zur Sabbatfeier einlädt und selber dorthin bringt, das heißt, dass er unser Leben zum Ziel führt und es vollendet. Und wir haben gesagt, dass es schon erste Raten dieser zukünftigen Ruhe gibt, dass wir immer wieder schon jetzt in unserem Leben etwas von dieser Ruhe erfahren dürfen. Die Feierlichkeiten fangen gleichsam schon hier an!

2.
Was dieses Geschenk der Ruhe sein kann, verstehen wir, wenn wir uns einige Treiber, einige Antreiber vor Augen führen, die uns keine Ruhe lassen, die Unruhe in uns verbreiten, die uns stressen, auf Trab halten, unter Druck setzen…

Da sind die Treiber und Antreiber, die uns ständig einreden, wir hätten diesen und jenen Mangel, wir bräuchten dies, wir müssten das haben…

Da sind die Treiber und Antreiber, die uns hetzen mit der Angst, wir würden etwas verpassen, wir würden zu kurz kommen.

Da sind die Erwartungen anderer Menschen oder unsere eigenen Erwartungen, die uns stressen, die uns keine Ruhe gönnen.

Da sind die Treiber und Antreiber, von denen wir uns in ein Hamsterrad setzen lassen: der angebliche Traum vom perfekten und selbstoptimierten Leben, der ein Alptraum ist, weil er alles Halbe und Bruchstückhafte nicht feiern kann; die Befürchtungen, nicht fromm und gläubig genug, nicht heilig und rein genug, nicht gut genug, nicht schön genug, nicht schnell genug,

3.
Und jetzt sagt uns Ps 23,2: Du, Herr, führst mich zu Wassern der Ruhe.

Es geht an diesen Wassern der Ruhe um unsere Kommunikation mit unserem Guten Hirten, vielleicht auch mit seinen menschlichen Assistenzhirten!

Dazu nun einige Gedankenanstöße.

a.
Es ist gut, an diesem Gewässer kein Smartphone dabei zu haben. Alle Mittel, die mir Ruhe versprechen und mir doch keine Ruhe lassen, spielen hier keine Rolle.

An diesen Wassern werde ich nicht beschäftigt, muss ich mich auch nicht beschäftigen.

b.
An diesem Wasser der Ruhe darf ich offen zugeben, wo ich keine Ruhe habe, wo ich gerne Ruhe hätte, ja dringend Ruhe bräuchte. Ich muss nichts verdrängen. Ich muss nichts beschönigen.

c.
An diesem Wasser der Ruhe darf ich mich umsehen. Ich habe Zeit, die Perspektiven zu sehen, die Gott mir schenkt. Ich muss nichts tun.

d.
Ich darf beten: Vielleicht ungefähr so: Herr Jesus, Du lässt mich auf einem guten Weideplatz lagern. Du schenkst mir frisches Gewächs. Du führst mich zu Wassern, die ruhig sind, die mich nicht bedrohen, sondern zur Ruhe verhelfen.

e.
Und manchmal schenkt Gott mir dann die Erfahrung: Alles ist gut! Auch wenn meine Umstände nicht gut sind! Ich habe Frieden, weil die Antreiber ihre Macht verloren haben!