Über unser Gesehenwerden und unser Sehen – Unser missionarisches Engagement Teil 4 – Von Thomas Pichel

I.
Was bedeutet es, dass Gott uns sieht, dass Gott uns ansieht?

1.
Wir können uns auf zwei entscheidende Bibelstellen aus dem Alten Testament konzentrieren, die uns das Sehen Gottes bezeugen.

(1)
Wir lesen in 2 Mo 3,7: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.

Das dürfen wir glauben! Der Herr sieht unsere Not. Er hört unser Schreien. Er begreift unser Leiden. Er fühlt mit uns mit. Auch wenn ich es nicht spüre. Auch wenn es mir nicht so vorkommt.

Gott sieht uns. D.h. Wir sind Gott nicht egal. Wir sind ihm unendlich wichtig. Wir liegen ihm am Herzen. Er zählt unsere Tränen.

(2)
Der sog. Aaronitische Segen in 4 Mose 6,25f, der in vielen Kirchen am Ende des Gottesdienstes den Besuchern zugesprochen wird, sagt uns zwei weitere Botschaften über das Sehen Gottes: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir. Der Herr hebe sein Angesicht über dir.

Gott freut sich über uns. Er strahlt, wenn er uns sieht. Und er wirft ein Auge auf unsere Anliegen, Belange und Themen. Er kümmert sich um unsere Nöte.

2.
Dieser Blick auf das Sehen Gottes schenkt uns ein Erkennen Gottes, das froh macht. Diesen Gedanken leihe ich mir von Thorsten Dietz und Andreas Loos.

„Gott interessiert sich für dich. Er ist nicht der launische Despot, der dich ausspäht. Er ist immer das Auge, das Anteil nimmt. Er ist immer das Ohr, das dein Weinen hört. Er ist immer die Nähe, die für dich da ist, wenn du sonst völlig allein bist.“

‘Wir werden von Gott nicht übersehen. Wir werden von ihm wahrgenommen. Er schaut nach uns. Er nimmt uns wirklich wahr. Gottes Sehen ist mit einem tiefen, einfühlenden Erkennen und Wahrnehmen verbunden. Was uns auch bewegen mag, Gott schaut nicht weg, Er schaut hin. Er lässt alles, was unsere Situation ausmacht, an sich heran.

Wir werden von ihm mit großem Wohlwollen gesehen. Gott sieht uns: D.h. Wir sind keine Nummer. Wir zählen als Person. Wir werden mit Wertschätzung angesehen.’

3.
Aber, aber, aber. Wie ist das mit big brother is watching you?

Dieser Ausdruck stammt aus dem Roman 1984 von Georg Orwell. Big brother steht für eine totale und subtile Überwachung aller menschlichen Handlungen und Regungen. Er steht für Bevormundung und Unterdrückung. Und genau das befürchten viele Menschen, wenn sie die Botschaft hören: Gott sieht mich!

Exkurs: Wir machen dazu eine kleine Übung

Ich lese uns drei Bibelstellen über das Sehen Gottes vor. Jede und jeder von uns kann sich fragen, welche Gefühle diese Verse auslösen. Wenn diese Bibelverse uns positiv berühren, ist das sehr schön.

In Jer 16,17 sagt Gott: Meine Augen sehen auf alle ihre Wege.

In Mt 6,4 sagt Jesus über Gott: Dein Vater sieht in das Verborgene.

In Hos 7,2: Ich sehe ihr böses Tun.

Welche Gefühle haben diese Verse in Dir ausgelöst? Wenn trotz Hos 7,2 die beiden ersten Verse Dich positiv berührt haben, ist das etwas, wofür Du dankbar sein kannst.

Aber ich hoffe, dass wir uns dennoch vorstellen können, dass diese Verse tricky, d.h. heikel und schwierig für jemanden sein können. Wenn wir uns durchschaut wissen, fühlen wir uns unwohl, sind wir auf der Hut. Wenn wir uns kontrolliert fühlen, flüchten wir aus dieser Situation, meiden wir die Person, von der wir uns kontrolliert fühlen.

4.
Auch deshalb gehen wir jetzt nicht sofort zum zweiten Teil unseres Predigtthemas. Wir stellen unser Sehen von Menschen kurz zurück und versuchen, zwei Fragen zu beantworten:

Frage 1: Wie verliert man die Furcht vor Gott, die Furcht vor dem Durchschautsein? Wie gewinnt man Vertrauen zu Gott als Quelle unseres Lebens?

Frage 2: Was ist die Voraussetzung dafür, dass wir die Menschen sehen und wahrnehmen, dass wir andere Menschen sehen lernen?

Deshalb lautet der zweite Punkt meiner heutigen Predigt: In der Sehschule Gottes.

 

II.
In der Sehschule Gottes

1.
Wenn uns unsere Angst vor Gott, unsere Vorbehalte, unsere Vorurteile blind für Gott machen.

Gott weiß um dieses Problem. Auch deshalb ist er in Jesus Christus Mensch geworden.

Jesus ist der Arzt, der Spezialist für die Überwindung aller Ängste, alle Vorbehalte, aller Vorurteile gegen Gott. Er ist die Medizin gegen das Misstrauen Gottes gegenüber.

Die Botschaft der Bibel lautet: Fürchtet euch nicht vor Gott, fürchtet euch nicht vor dem Gesehenwerden durch Gott. Bei dem Jesus Christus-Gott kann man sich das Vertrauen erlauben!

Deshalb ruft uns die Bibel dazu auf, auf Jesus zu sehen. Wir sollen uns Jesus befassen. Wir sollen den uns sehenden Jesus ansehen. Das Versprechen Jesu dabei lautet: “Wer mich sieht, sieht den Vater! (Joh 14,1.9).

Wir müssten jetzt die vier Evangelien lesen! Aber ich leihe mir von Manuel Schmid eine interessante Zusammenfassung über Jesus. Sie kann uns helfen, Jesus zu sehen.

Sünder erfahren Vergebung und beginnen ein neues Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Gesellschaftlich Ausgestoßene und Verachtete werden angenommen und finden ihren Platz unter den Anhängern von Jesus. Stadtbekannte Betrüger und Geizhälse begegnen dem Gottessohn und verteilen ihr Vermögen unter den Bedürftigen. Arme werden versorgt, Trauernde getröstet, Schwache gestärkt, Gebundene befreit, Sterbenskranke geheilt und Tote wieder auferweckt… In der Nähe von Jesus blüht mit anderen Worten ein Stück Himmel mitten in dieser alten Erde auf.“ Manuel Schmid, Gott hat keinen Plan, S.126f

2.
Wenn uns unser Gottes-Ersatzgrößen blind für Gott machen!

Wie ist das gemeint? Wir sehen uns dafür unser Sehen an, wir werfen sozusagen einen Blick auf unser eigenes Erkennen. Es geht wieder um die Frage, dass wir blind für Gott, aber auch blind für Menschen sein können. Ich lese uns dazu einen kleinen Text aus der Bergpredigt vor, den wir gar nicht wichtig genug nehmen können.

Das Auge ist das Licht (oder die Lampe) des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird ein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein“ (Mt 6,22f)

(1)
Mit Hilfe des Augenlichts nehmen wir Eindrücke von außen wahr und in uns auf. Wir nehmen alles wahr und in uns auf: unsere Umgebung, die Schöpfung, die Menschen. Es geht also um die Funktionstüchtigkeit unserer Wahrnehmung und unseres Erkennens.

Gleichzeitig sind unsere Augen Spiegel und Ausdruck unserer Herzen. Sie spiegeln unseren Herzenszustand wider. Ist unser Herz fröhlich, strahlen unsere Augen. Ist unser Herz traurig, sind unsere Augen tieftraurig. Ist unser Herz verbittert, sieht man das an und in unseren Augen.

(2)
Was ist nun das lautere Auge und dementsprechend das böse Auge?

a.
Wir beginnen mit dem lauteren Auge. Das griechische Wort, das Luther mit „lauter“ übersetzt heißt haplous. Es ist ein unscheinbares Wort mit größtem Gewicht für unser Leben.

Haplous meint einfach, eindeutig und nicht geteilt, nicht gespalten, nicht unrein. Das gute und gesunde Auge ist gleichzeitig einfach und eindeutig, weil das Herz des Menschen und damit sein Glaube einfach und eindeutig ist. Der einfache und eindeutige Glaube ist das echte Interesse an der Wahrheit über Gott. Er ist bedingungslose Offenheit. Er ist exklusive Liebe zu Gott. Es schielt nicht gleichzeitig auf den lebendigen Gott der Bibel und auf einen zweiten persönlichen Gott (Geld, Erfolg, Macht, Ehre, Sicherheit…).

Dahinter steht eine grundsätzliche Wahrheit über uns Menschen:  Man kann sein Herz nur einmal vergeben. Man kann sein Herz nur einer Person in voller Liebe geben. Man kann nur einem Gott sein Herz schenken. Haplous ist tiefes Vertrauen zu Gott, ein getrostes und hoffnungsvolles Ja zur Abhängigkeit von Gott. Haplous ist die Gewissheit, in Gott geborgen zu sein.

Haplous meint aber auch großzügig und freigiebig. Wie ist die Logik? Ein Mensch, der weiß, dass Gott sich um seine Sorgen sorgt, dass Gott ihn sieht, ein Mensch, der die Liebe und die Macht Jesu kennt, kann großzügig und freigiebig zu Menschen sein. C.S. Lewis sagt einmal: Wer wahrhaft mit Gott verbunden ist, der wird es auch mit seinen Mitmenschen sein.

b.
Das böse Auge ist das für Gott blinde Auge, weil es ein anderes Licht, einen anderen Schatz, eine andere Nr. 1 hat, weil es sein Vertrauen nicht auf Gott setzt, sondern auf etwas anderes fokussiert ist. Dieses andere, das Gott ersetzen soll, nennt die Bibel Götze. Ein Mensch mit einem bösen Auge verpasst das Licht, das Jesus selbst ist, weil er nur Augen für eine andere Faszination, für eine andere Liebe, für ein anderes Ziel hat.

Jesus nennt im Zusammenhang unserer Bibelstelle das Geld Mammon, weil er weiß, dass Geld das Potential zum Götzen hat. Die Liebe zum Geld macht blind. Wer aufs Geld schaut, wer dem Geld den höchsten Wert beimisst, wer dem Geld die Priorität gibt, wer von Geld erwartet, was nur Gott geben kann, wird blind für das wirkliche Licht, für Gott… Er wird verschlossen für das Evangelium, für alles, was Gott ihm sein und schenken will.

Das böse Auge ist auch das für andere Menschen blinde Auge. Es sieht die anderen nicht. Es sieht immer nur sich. Das böse Auge ist das neidische Auge, das haben will, was andere haben und das anderen nichts gönnt.

(3)
Wir fassen zusammen: Wir stehen hier vor einer grundlegenden Wahrheit, die uns die Bibel immer wieder vor Augen stellt: Wir können nur erkennen, was wir anerkennen. Wir können nur erkennen, was wir lieben. Wir können nur erkennen, wo wir echte Begegnung zulassen. Das gilt im Blick auf Gott. Und das gilt im Blick auf andere Menschen.

 

III.
Wir sehen die Menschen (an).

1.
Eine wichtige Vorbemerkung: Vorsicht! Missbrauchsgefahr! Es geht nicht darum, den anderen zu scannen, zu durchschauen! Was wir durchschauen, sehen wir nicht mehr. Der andere ist und bleibt ein Geheimnis. Das dürfen wir nie vergessen.

Es geht um die die Frage: Wenn wir Menschen bewegen wollen, die Botschaft von Jesus zu hören, Vertrauen zu Gott zu fassen, ist es hilfreich zu wissen, was die Menschen bewegt, wovor sie sich fürchten, was sie sich wünschen.

2.
Wir sehen die Menschen mit Hilfe von Weisheit, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis

Ich habe vor Jahren eine Übertragung des Liebesgebotes, des Gebotes der Nächstenliebe gehört, die mich beeindruckt. Sie stammt von Martin Buber. Er übersetzt das Gebot „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ folgendermaßen: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“.

Diese Weisheit hilft mir, mich selbst und andere Menschen zu verstehen. Drei Beispiele sollen genügen: Ein Mann will immer Recht haben, Recht bekommen, Recht behalten. Ich bin oft nicht anders. Ein Freund hat eine Schwäche. Er kann etwas nicht, was Erwachsene normalerweise können. Das ist mir nicht fremd. Ich will nicht mein Gesicht verlieren. Andere haben den gleichen Horror davor. Solche Dinge sind lehrreich und hilfreich. Ich erfahre sie als Hilfe zum Verständnis anderer und als Hilfe zur echten Gemeinschaft mit anderen.

3.
Wir sehen die Menschen mit Hilfe der Wissenschaft (z.B. der Sozialwissenschaften, der Religionspsychologie)

Wir haben heute eine stark entkirchlichte Gesellschaft.

Da gibt es den Apatheismus, die Gleichgültigkeit gegenüber der Religion.

Es gibt einen religiösen Analphabetismus, das Fehlen selbst elementarer religiöser Kenntnisse.

Es gibt einen Antiklerikalismus, eine Allergie gegenüber den Äußerungen der Kirche.

Und es gibt diverse Arten von Atheismus. „Es gibt einen leichtfertigen Atheismus, der wie Esau das Glaubenserbe für eine Schüssel Linsen verkauft. Es gibt ein ‚Gottvergessen‘, welches in den frei gewordenen Raum sofort Ersatzgötzen jeglicher einsetzt. Es gibt einen hochmütigen Atheismus, für den es ‚Gott nicht geben darf‘, damit er die Größe des menschlichen Egos, das den Thron des Gottseins beherrschen will, nicht überschatte: ‚Wenn es Gott gäbe, wie könnte ich ertragen, selbst nicht Gott zu sein?‘ Es gibt einen befreienden Atheismus, der endlich den vermeintlichen Gott, den ihn jahrelang tyrannisierenden Gott seiner eigenen Projektion, loswurde. Es gibt auch einen betrübten, schmerzvollen Atheismus: ‚Ich möchte gern glauben, aber angesichts meines eigenen Leidens und des Schmerzes in der Welt ist so viel Bitterkeit in mir, dass ich dazu nicht fähig bin.‘“ (Tomas Halik, in: Geduld mit Gott, S.65)

4.
Wir sehen die Menschen mit Hilfe der Bibel

Der Mensch hat ein spannungsreiches, kompliziertes Verhältnis zu Gott.

Einerseits gilt: Der Mensch versteckt sich vor seinem Schöpfer, seinem Herrn, seinem Gott. „Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten“ (1 Mo 3,8).

Der Mensch ist auf der Flucht vor Gott. Er hat große Angst vor Gottes Strafen. Er fürchtet Kritik und Leiden. Er hat große Angst vor Gott als Bestimmer und Herrscher. Er fürchtet Unfreiheit und fremdbestimmtes Leben. Der natürliche Mensch will laut Luk 19,14 nicht, dass Gott über ihn herrsche; wenn der Mensch Gott will, dann als Mittel zum Zweck der Selbststabilisierung und Selbstoptimierung, als Wunscherfüller, als Garant für Hilfe, Erbauung und Bestätigung

Andererseits gilt: Gott hat „die Ewigkeit in ihr Herz gelegt. Nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende“ (Prediger 3,11).

Der Mensch hat in sich eine Sehnsucht nach Gott. In uns Menschen ist ein Verlangen, das durch nichts in dieser Welt gestillt werden kann. Die Welt ist nicht genug für unser Herz, ob der Mensch das weiß oder nicht, ob er es akzeptiert oder nicht. Wozu sind dann die irdischen Freuden da? Sie sind nicht dazu da, um unsere Sehnsucht zu stillen, sie sind dazu da, auf Gott hinzuweisen, sie sind dazu da, unsere Freude an Gott wachzurufen. (Diesen Gedanken leihe ich mir von C.S. Lewis) Das aber muss dem Menschen genauso offenbart werden, wie all das, wie Gott denkt und tickt, was Gott tut und wie Gott ist.

5.
Wir sehen die Menschen mit den Augen Gottes, mit den Augen Jesu

(1)
Als Jesus die vielen Menschen sah, taten sie ihm von Herzen leid, wurde er von Mitgefühl überwältigt, denn sie waren erschöpft und verschmachtet, zerstreut und schutzlos, wie Schafe, die keinen Hirten haben (Mt 9,36)

Wir sehen, dass Jesus die Nöte der Menschen sieht: ihre Orientierungslosigkeit, ein Leben ohne bleibendes Lebensziel, ihr Hungern und doch nicht Sattwerden, ihre Traurigkeit und Leere, ihr Ausgeliefertsein an falsche Hirten…

Wir sehen, dass Jesus sehr sensibel für andere ist. Wir sehen seine Betroffenheit. Wir sehen seine Menschenliebe. „Jesus hat in seinem Mitgefühl alles Mit-Leiden durchlebt, und zwar für jeden einzelnen Menschen. Das hat unmittelbar damit zu tun, dass er von jeglichem Menschenleid tief ergriffen war (Jaques Ellul, in: Bist du Gottes Sohn?, S.43)

(2)
Jesus ist laut eigener Aussage „nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene“ (Mk 11,45)

Alle Menschen sind Wesen, denen Jesus dient!

Daraus ergeben sich zwei Fragen für uns alle:

Frage 1: Wollen wir beim Dienen Jesu mitmachen oder nicht?

Frage 2: Wollen wir bei Jesus das Mitgefühl lernen? Denn wir müssen mit anderen Menschen mitfühlen, um für sie und mit ihnen tätig zu werden.