Liebe V – Wie werden wir liebesfähig? – Von Thomas Pichel

A.

Es gibt in der Bibel und erst recht bei Jesus eine untrennbare Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe.

Jesus verknüpft die beiden Gebote: Du sollst Gott lieben. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Mt 22,37-39; Mk 12,28-31 u Luk 10,27) und nennt sie die höchsten Gebote.

Der Glaube ist also anspruchsvoll. Gott beruft uns zum Lieben. Er stellt uns vor die Herausforderung zu lieben. Sonst bleibt er im seichten Gewässer der unverbindlichen Gefühle stecken.

Nur: Wie werden wir liebesfähig und liebeswillig? Wie werden wir von unserer Liebesunfähigkeit und unserer Liebesunwilligkeit erlöst?

Ich gebe jetzt keine Bedienungsanleitung, sondern ich will versuchen, hilfreiche Gedankenanstöße dafür zu geben.


B.

I.
Teil 1: Liebe(n) hat immer ein Woher!


„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“
(2 Kor 13,16)

Der heutige Sonntag des Trinitatisfestes hilft uns, das Woher unserer Liebesfähigkeit zu sehen. Der Dreieinige Gott ist das Woher unserer Liebesfähigkeit. Er ist die Quelle unseres Liebens.

1.
Die Liebe Gottes (und die Liebe von Menschen)

Die Bibel redet oft von Festen und vom Feiern. Alle Anweisungen zum Sabbat und zu den jüdischen Festen kann man so zusammenfassen: Du sollst feiern! Du kannst feiern! Denn du hast viel zu feiern!

Zu feiern bedeutet, dass wir uns mit frohen Herzen bewusst machen, dass Gott für uns sorgt, dass wir uns bewusst machen, was Gott uns schenkt, was das Leben uns schenkt, was andere Menschen uns schenken. Das Wissen, beschenkt zu sein, das Wissen, geliebt zu sein, ist für das Lieben-Können entscheidend.

Paulus fragt in 1 Kor 4,7: Was hast du, was du nicht empfangen hast? Was hast du, was du nicht geschenkt bekommen hast?

Fußnote: Es gibt Menschen, denen es sehr gut geht, die ohne Geldsorgen leben können, die deshalb sehr viel lieben. Aber – zugegeben – es gibt auch Menschen, denen es sehr gut geht, die ohne Geldsorgen leben können, die aber wenig lieben…

2.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus

Ich will uns bei diesem Punkt an ein einziges Bibelwort erinnern. In Luk 7 gibt es die Geschichte, dass eine stadtbekannte Sünderin sich in ein Haus einschleicht, in dem Jesus mit einigen Pharisäern zusammen ist und speist. Die Frau salbt Jesu Füße und trocknet sie mit ihrem Haar.

Die Männer sind entsetzt. Jesus aber sagt über dieser Frau: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt (Luk 7,47f). Dass sie so viel Liebe geben kann, liegt daran, dass sie sehr viel Vergebung von Gott erfahren hat.

Dann sagt Jesus: Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Gott will vergeben. Aber wenn der Mensch sich weigert, um Vergebung zu bitten, den kann Gott nicht beschenken. Und das Resultat: Er wird wenig lieben.

Martin Schleske sagt: „Ich glaube, Gott hat viel weniger Mühe mit unserer Sünde als damit, dass wir uns weigern, Sünder zu sein. Unsere strahlenden Selbstinszenierungen hindern unsere tiefere Selbstannahme, denn sie machen uns glauben, wir seien gut. Gut ist Gott allein. Es ist die Arroganz der über überforderten Heiligen, die sich weigern, endlich erlöste Sünder zu sein.“ (Martin Schleske, WerkZeuge, S.249).

3.
Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

Liebe wird uns in der ganzen Bibel geboten. Und zugleich ist klar, dass sie nicht (nur) geboten werden kann. Liebe ist eine Frucht des Heiligen Geistes. Sie ist ein Geschenk! Keiner von uns hat die Liebe aus sich selbst. Sie ist eine Möglichkeit, die wir nicht selbst entwickeln, sondern die uns zugespielt wird. Wir können sie von Gott her als Möglichkeit empfangen. Die Logik ist wie immer in der Bibel: Ich empfange, also bin ich!

Gal 5,22 sagt uns: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treu, Sanftmut, Keuschheit“ (Gal 5,22)

Es geht um unser Teamwork mit dem Heiligen Geist, um unsere Zweierschaft mit ihm. Deshalb empfiehlt uns das Neue Testament diverse Verhaltensweisen dem Heiligen Geist gegenüber.

Wir dürfen um sein Wirken bitten (Luk 11,13).
Wir sollen ihn nicht belügen (Apg 5,3.9).
Wir sollen auf ihn hören (Apg 5,32).
Wir sollen darauf achten, ihn nicht zu belügen (Apg 5,3.9), ihn nicht zu bremsen (1 Thes 5,19, ihn nicht zu betrüben (Eph 4,30).
Wir dürfen ihn bitten, unser Flasche-leer-Sein zu erfüllen (Eph 5,18).

 

II.
Teil 2: Liebe(n) hat immer ein Trotzdem

Liebe ist ein Ding mit 1000 Gegnern und Feinden, die gegen sie wirken, die sie erschweren, die sie unwahrscheinlich machen, ja die sie unmöglich machen können. Es gibt eine Schwerkraft, die unser Herz, das in der Hand Gottes weich und formbar sein soll, verhärtet und zu Stein macht.

Ich zähle nun einige Gegner und Feinde der Liebe auf.

1.
Wir müssen nur Kopf-, Rücken- oder Zahnschmerzen haben, wir müssen nur eine schlaflose Nacht hinter uns haben oder geräusch-empfindlich sein, und schon wird das Lieben ein Kampf…!

2.
Die kleinen Füchse der menschlichen Kontakte zünden den Weinberg der Liebe an und zerstören ihn. Es reicht manchmal, dass uns jemand übersieht, nicht grüßt, sich nicht bedankt, uns nicht einlädt, uns widerspricht, eine andere Meinung hat…

3.
Schwere Zeiten, böse Zeiten, unsichere Zeiten, Zeiten der Teuerung… machen oft die Liebe selten und das Lieben schwer, fördern das Schlechteste im Menschen zutage: Lüge, Gleichgültigkeit, Egomanie, Grausamkeit…

Unsere Zeit z.B. ist eine Zeit im Aggressionsmodus. Der Andersdenkende ist kein Dialogpartner, mit dem man sich auseinandersetzen muss, sondern ein Idiot, ein Feind, den man zum Schweigen bringen muss. Wen jemand so denkt, hat es die Liebe schwer.

4.
Ich will uns an ein einziges Bibelwort erinnern. Jesus sagt in Mt 24,12: „Und weil die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten.“

Ungerechtigkeit oder Gesetzlosigkeit (gr. anomia) meint, dass der Mensch Gottes Regieanweisungen, Gottes Willen ignoriert und missachtet, dass er stattdessen seinen Willen, seine Interessen, seine Meinung, seine Ziele absolut setzt und zum Maß aller Dinge macht.

Ungerechtigkeit oder Gesetzlosigkeit meint, dass die Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Liebe und Hass verlorengeht.

(1)
Die erste Logik des Wortes Jesu aus Mt 23 lautet: Wenn wir Opfer von Ungerechtigkeit und Unrecht werden, wirkt sich das negativ auf unser Lieben aus. Wer ein Opfer von Ungerechtigkeit wird, z.B. ein Opfer von Gewalt oder Machtmissbrauch, in dem erkaltet die Liebe.

 

Und die Frage lautet dann immer: Was kann ich verkraften? Wie viel Ungerechtigkeit kann ich verkraften?

Welches Unrecht? Wie viel Unrecht?
Welchen Egoismus? Wie viel Egoismus?
Welche Verletzungen? Wie viele Verletzungen?

Die Frage ist: Was verkrafte ich? Denn alles ist ein Angriff auf meine Liebe und mein Lieben?

Welche Lügen? Wie viele Lügen?
Welche leeren Versprechungen? Wie viele leere Versprechungen?
Welche Verletzungen? Wie viele Verletzungen?
Welche Einschüchterungen? Wie viele Einschüchterungen?
Welche Demütigungen? Wie viele Demütigungen?
Welche Ausgrenzungen? Wie viele Ausgrenzungen?

Die Frage ist: Was verkrafte ich? Denn alles ist ein Feind der Liebe und des Liebens.

Wie viel Missbrauch?
Wie viel Hass?
Wie viel verbale Gewalt?
Wie viel körperliche Gewalt?
Wie viel Rassismus?
Wie viel Unterdrückung und Verfolgung?

Und die Frage lautet: Was verkrafte ich? Denn all das sind tödliche Temperaturen für die Liebe!

(2)
Die zweite Logik des Wortes Jesu aus Mt 23 lautet: Aber auch wer Täter von Ungerechtigkeit ist, wer egomanisch für sich und seine Interessen keine Grenzen kennt, auch in dem erkaltet die Liebe, der lässt seine Liebesfähigkeit erfrieren, der bekommt ein eiskaltes Herz, in dessen Gegenwart frieren andere…

5.
Zwei Fußnoten dazu:

Fußnote 1: Wir Christen sollten vorsichtig mit diesem Bibelwort umgehen! Jesus redet hier ursprünglich nicht nur von der Welt, sondern von uns Christen! In den Gemeinden erkaltet die Liebe, weil die Ungerechtigkeit überhandnimmt.

Fußnote 2: Aber auch das Gegenteil ist der Fall. Solche dunklen Zeiten bringen auch das Beste im Menschen hervor: Menschlichkeit, Solidarität, Mut, Opferbereitschaft.

„Es darf nicht übersehen werden, dass die Anzahl derer wächst, die wirklich Verantwortung übernehmen, die Solidarität gegen Egoismus, Gewaltlosigkeit gegen Grausamkeit, Dialog gegen Fanatismus, Achtung vor dem Leben gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Natur, Respektierung der allgemein menschlichen und bürgerlichen Rechte jedes Menschen gegen Rassismus und Nationalismus und Ähnliches setzen“ (Halik, NoH, 69)

 

III.
Teil 3: Konsequenzen für unsere (Selbst-)seelsorge

1.
„Weil Liebe vollkommen ist, ist sie stets nur der Weg, den wir beginnen, nicht das Ziel, das wir erreichen. Der Liebe kann man nur gerecht werden in der Bereitschaft, ständig an ihr zu scheitern. Wer das mit der Liebe in den Griff kriegt, hat es endgültig vermasselt. Denn es heisst: «Bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt.» (Röm 13,8) Nur wer an der Liebe scheitert, hat es wirklich versucht“ (Andreas Loos u Thorsten Dietz)

2.
Es gibt eine Anekdote über einen Amerikaner, „der während des Vietnamkrieges jeden Freitag für mehrere Stunden mit einem Protestschild vor dem Weißen Haus stand. Eines Tages ging ein Reporter zu ihm und fragte ihn mit einem spöttischen Lächeln: ‚Glauben Sie wirklich, dass Sie die Welt verändern, indem Sie hier stehen?‘ ‚Die Welt verändern?‘ staunte der Mann, ‚ich habe nicht die Absicht, die Welt zu verändern. Ich sorge nur dafür, dass sie nicht mich verändert‘.“ (David Großmann, Frieden ist die einzige Option, S.58)

Wir sehen: Das Böse siegt über uns nicht nur dann, wenn wir seine Methoden übernehmen, sondern auch dann, wenn wir uns daran gewöhnen.

3.
Gott ermutigt uns in Sprüche 23 dazu, dass wir ihm unser Herz geben: Gib mir, meine Tochter, mein Sohn, dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen!)

Im hebräischen Verständnis bezeichnet das Herz nicht nur den physischen Ort, sondern es meint vor allem die Gesamtheit der menschlichen Person. Das Herz ist das zentrale Organ des menschlichen Seins, des innersten Menschen. Es ist das innerste und eigentliche Selbst, die Mitte des Bewusstseins und des Unbewusstseins, des Körpers, der Seele und des Geistes – die absolute Mitte. Das Herz ist die verborgene Geburtshöhle des neuen Menschen. Doch dieses Herz wird im Alltag oft hart, wandert ab, verlässt seinen Platz im Leben.

Franz von Sales (1567-1622) ermutigt uns, dass wir Gott unser Herz anvertrauen, dass wir unser Herz ihm ausschütten, dass wir immer wieder unser Herz ihm zurückbringen.

Wenn dein Herz wandert oder leidet,
bring es behutsam an seinen Platz zurück
und versetze es sanft in die Gegenwart deines Gottes.
Und selbst, wenn du nichts getan hast
in deinem ganzen Leben
außer dein Herz zurückzubringen
und wieder in die Gegenwart unseres Gottes
zu versetzen, obwohl es jedes Mal wieder fortlief,
nachdem du es zurückgeholt hattest,
dann hast du dein Leben wohl erfüllt.

Das heißt: Wir dürfen unser Herz Gott hinhalten, wenn wir eine Ungerechtigkeit nicht mehr verkraften, eigentlich noch nie verkraftet haben. Wir dürfen unser Herz Gott hinhalten mit all unseren Verletzungen. Wir dürfen unser Herz Gott hinhalten mit all unserer Schuld, mit aller abgekühlten oder eingefrorenen Liebe. Wir dürfen unser Herz von ihm behandeln lassen.

Gottseidank! Halleluja! Amen!