Sprüche 8,22-36 – Gottes Weisheit und der Mensch – Von Martin Brendel

22 Am Anfang hat der Herr mich geschaffen, ich war sein erstes Werk vor allen anderen.
23 In grauer Vorzeit hat er mich gemacht, am Anfang, vor Beginn der Welt.
24 Als ich geboren wurde, gab es noch kein Meer und keine Quelle brach aus der Tiefe hervor.
25 Der Grund der Berge war noch nicht gelegt, die Hügel waren noch nicht entstanden.
26 Gott hatte noch nicht die Erde gemacht, vom festen Land und seinen Feldern war noch nicht das Geringste zu sehen.
27 Ich war dabei, als er den Himmel wölbte und den Kreis des Horizonts festlegte über den Tiefen des Ozeans,
28 als er die Wolken hoch oben zusammenzog und die Quellen aus der Tiefe sprudeln ließ,
29 als er dem Meer die Grenze bestimmte, die seine Fluten nicht überschreiten dürfen, als er die Fundamente der Erde abmaß –
30 da war ich als Kind an seiner Seite, ich freute mich an jedem Tag und spielte unter seinen Augen.
31 Ich spielte auf dem weiten Rund der Erde und hatte meine Freude an den Menschen.
32 Deshalb, ihr jungen Leute, hört auf mich! Wie glücklich sind alle, die mir folgen!
33 Schlagt meine Unterweisung nicht in den Wind, hört darauf und werdet klug!
34 Wie glücklich sind alle, die mir zuhören, die jeden Tag vor meinem Haus stehen und an meinem Tor auf mich warten.
35 Alle, die mich finden, finden das Leben und der Herr hat Freude an ihnen.
36 Doch wer mich verfehlt, schadet sich selbst. Alle, die mich hassen, lieben den Tod.

 

Bei der Vorbereitung meiner letzten Predigt bin ich auf diese Bibelstelle gestoßen. Es ging vor vier Wochen darum, ein Leben als Weiser zu führen. Da wurde das Thema Weisheit schon kurz angeschnitten. Durch einen Verweis auf Sprüche 8 bin ich auf diesen Text gekommen. Zuerst fragte ich mich, von wem ist überhaupt die Rede? Es geht hier um die Weisheit. In der Lutherübersetzung trägt der Abschnitt die Überschrift: Die Weisheit als Gottes Liebling. Hier wird die Weisheit als Person dargestellt und wunderschön beschrieben. Bei der weiteren Beschäftigung mit dem Text kam mir der Gedanke, ob ich diese Verse auch auf Jesus anwenden kann. Darüber hinaus lesen wir in der Bibel auch vom Gegensatz von Weisheit und Torheit. Sind dann die Menschen, die nicht glauben und die Weisheit nicht erkennen, dumm?

 

I.
Annäherungen an das Geheimnis der Weisheit

1.
Zwei Definitionen aus Bibellexika

Weisheit (griechisch: sophia) bedeutet Einsicht in die Fülle der Dinge und Lebenszusammenhänge. Oder: Weisheit ist die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit, das Leben als etwas Geordnetes zu erkennen und sich in diese Ordnung einzufügen, um in unterschiedlichen Situationen der Situation gemäß, d.h. weise zu handeln.

2.
Weisheit ist immer eine Gabe Gottes

Der Mensch gewinnt Weisheit teils aus Veranlagung, teils aus Erfahrung, immer aber als Gabe Gottes.

3.
Weisheit hat etwas zu tun mit dem sog. Tun-Ergehen-Zusammenhang.

Grundüberzeugung der Weisheit Israels ist, dass sich die eigenen Taten und das Schicksal entsprechen. Man nennt das den sog. Tun–Ergehen–Zusammenhang. Diesen Zusammenhang können wir nicht durchschauen, wir können Gott nicht begreifen.

4.
Weisheit hat auch etwas zu tun mit dem, was wir heute wissenschaftliche Expertise oder Handwerkskunst nennen würden.

Weisheitliches Arbeiten konnte sich in vorwissenschaftlicher Weise z.B. durch die Anfertigung von Listen ausdrücken. Im ersten Buch der Könige, Kapitel 5 ab V.9 wird Salomo zugesprochen, dass er die verschiedenen Arten der Tiere, der Vögel und Fische kennt: „Und er dichtete dreitausend Sprüche und tausendundfünf Lieder. Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder an auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Auch dichtete er von den Tieren des Landes, von Vögeln, vom Gewürm und von Fischen.“

Im AT zählen auch handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten zur Weisheit. Zum Beispiel das Herstellen von Priestergewändern in 2 Mose 28, 2-3: „Und du sollst Aaron, deinem Bruder, heilige Kleider machen zur Ehre und als Schmuck und sollst reden mit allen, die weisen Herzens sind, die ich mit dem Geist der Weisheit erfüllt habe, dass sie Aaron Kleider machen zu seiner Weihe, dass er mein Priester sei.“

Es heißt zum Beispiel über einen Kunsthandwerker für die Stiftshütte in 2 Mose 31,2-5: „Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezalel, den Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamm Juda, und habe ihn erfüllt mit dem Geist Gottes, mit Weisheit und Verstand und Erkenntnis und mit allerlei Fertigkeiten, kunstreich zu arbeiten in Gold, Silber, Bronze, kunstreich Steine zu schneiden und einzusetzen und kunstreich zu schnitzen in Holz, um jede Arbeit zu vollbringen.“

5.
Bedeutsam sind auch die Sprichwörter, in denen es um das richtige Verhalten von Personen in bestimmten Beziehungen und Situationen geht.


II.
Beispiele von weisen Personen oder Gruppen bzw. Nationen in der Bibel

1.
Als Josua zum Nachfolger Moses berufen wird, heißt es in 5 Mose 34,9: „Josua aber, der Sohn Nuns, wurde erfüllt mit dem Geist der Weisheit; denn Mose hatte seine Hände auf ihn gelegt. Und die Israeliten gehorchten ihm und taten, wie der HERR es Mose geboten hatte.

2.
Über Josef wird in 1 Mose 41,39 folgendes festgestellt: „Und der Pharao sprach zu Josef: Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du.“

3.
Über Daniel heißt es in Dan 2,48: „Und der König erhöhte Daniel und gab ihm große und viele Geschenke und machte ihn zum Fürsten über das ganze Land Babel und setzte ihn zum Obersten über alle Weisen in Babel.“

Über Salomo, der durch seine weise Spruchdichtung und seine weise Rechtsprechung bekannt ist, heißt es in 1 Könige 3,28: „Und ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten.“

 

III.
Eine auffällige Spannung in der Bibel

1.
Wir finden in der Bibel auch die Tatsache bezeugt, dass andersgläubige oder nichtgläubige Menschen Weisheit haben bzw. weise sein können. Es heißt z.B. in Jes 47,10: „Denn du hast dich auf deine Bosheit verlassen, als du dachtest: Niemand sieht mich! Deine Weisheit und Kunst hat dich verleitet, dass du in deinem Herzen sprachst: Ich bin’s und sonst keine!“ Oder wir lesen von der Weisheit Edoms in Jeremia 49,7: „Über Edom. So spricht der HERR Zebaoth: Ist denn keine Weisheit mehr in Teman? (Stadt in Edom, berühmt wegen der Weisheit ihrer Bewohner) Ist denn kein Rat mehr bei den Klugen? Ist ihnen die Weisheit ausgegangen?

Gleichzeitig lesen wir in Sprüche 9,10: „Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn, und den Heiligen erkennen, das ist Verstand.“

Da liegt eine Spannung vor, die wir nicht auflösen können. Auf der einen Seite ist die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit. Auf der anderen gibt es auch ohne den Glauben an Gott Weisheit.

2.
Wie können wir mit dieser Spannung umgehen?

Ich habe in der vergangenen Woche auf ERF einen Vortrag gehört, in dem um Spannungen ging. Deshalb ein kleiner Exkurs zu dem Thema, wie wir mit Spannungen in der Bibel umgehen können: Der Redner unterschied, dass es Probleme und Spannungen gibt. Probleme kann man oder muss man lösen. Spannungen müssen wir nicht nur aushalten, sondern wir müssen sie managen. Anders gesagt, wir müssen lernen mit Spannungen umzugehen. Dabei ging es um das Leben als Christ in der Welt. Er zeichnete das Bild vom Schiff, das sich Gemeinde nennt. Dieses Schiff ist kein Ausflugsdampfer, vielmehr ist es ein Rettungsboot. Es fährt auf dem Wasser. Das Wasser ist die Welt. Um Menschen vom Wasser ins Boot zu bekommen, wird man unweigerlich nass. So müssen wir uns als Christen auch ein Stück in die Welt begeben, uns mit der Welt auseinandersetzen, um die Menschen zu erreichen. Als Christen kommen wir also oft in diese Spannungsfelder hinein. Und das ist auch gut und wichtig.

3.
Dennoch steht die Frage im Raum: Woran liegt es, dass auch nichtgläubige Menschen weise Menschen sein können, weise handeln können? Die Bibel selbst gibt uns die Antwort: Das liegt daran, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind. Das liegt daran, dass es eine allgemeine und eine besondere Offenbarung Gottes gibt.

 

IV.
Die allgemeine und besondere Offenbarung Gottes

Ich leihe mir die folgenden Gedanken von Professor Frank Lüdke aus Tabor. Der youtube-Link lautet: https://youtu.be/oUuCXmk1Shs. Die Theologie, so Lüdke, unterscheidet eine allgemeine und eine besondere Offenbarung Gottes.

1.
Die allgemeine Offenbarung Gottes sind Spuren oder Zeichen Gottes, die darauf hinweisen, dass es Gott gibt. Diese Spuren oder Zeichen hat jeder Mensch in sich. Diese Spuren oder Zeichen gibt es in der Welt und in der Geschichte.

a.
Es gibt innere Spuren und Zeichen:

(1)
Unser Gewissen, unser moralisches Bewusstsein, wir unterscheiden zwischen Gut und Böse.

Es heißt in Rö 2,14-15: „Auch wenn die anderen Völker das Gesetz Gottes nicht haben, gibt es unter ihnen doch Menschen, die aus natürlichem Empfinden heraus tun, was das Gesetz verlangt. Ohne das Gesetz zu kennen, tragen sie es also in sich selbst. Ihr Verhalten beweist, dass ihnen die Forderungen des Gesetzes ins Herz geschrieben sind, und das zeigt sich auch an der Stimme ihres Gewissens und an den Gedanken, die sich gegenseitig anklagen oder auch verteidigen.“

(2)
Die Gottesahnung, die Gottgläubigkeit, die Religiosität der Menschen. Es gibt verschiedene Religionen, Stammesreligionen, verschiedene Gottesvorstellungen.

(3)
Die Sehnsucht in jedem Menschen nach mehr, eine Sehnsucht über das Leben auf der Erde hinaus. Jeder hat ein Loch im Herzen, das nur durch etwas Überirdisches gefüllt werden kann. Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt.

(4)
Vernunftgründe. Es muss ein höheres Wesen geben.

b.
Es gibt äußere Spuren und Zeichen

(1)
Die Schöpfung

Es heißt in Römer 1,20: „Weil Gott die Welt geschaffen hat, können die Menschen sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und göttliche Majestät mit ihrem Verstand an seinen Schöpfungswerken wahrnehmen. Sie haben also keine Entschuldigung.“

(2)
Die Weltgeschichte

Wie Gott das Weltgeschehen in der Hand hat und handelt. Zum Beispiel die Gründung des Staates Israel 1948 oder der Fall der innerdeutschen Mauer 1989.

Jetzt kann man die genannten Punkte alle kritisch sehen und sagen: Gewissen und Moral sind mir anerzogen worden. Das ist alles Einbildung. Das ist kein Beweis. Gläubige Menschen sehen darin Hinweise auf Gott, Bestätigungen für Gottes Handeln und Existenz.

Aber zugegeben: Trotz dieser Spuren Gottes möchten oder können viele Menschen nicht an Gott glauben. Es fehlt die sog. Besondere Offenbarung Gottes. Was ist damit gemeint?

2.
Die besondere Offenbarung Gottes

a.
Gott hat sich in der Geschichte Israels offenbart. Er hat sich durch Mose offenbart. Er hat durch Propheten gesprochen.

b.
Und als Höhepunkt und eigentliche besondere Offenbarung: Gott hat sich offenbart, indem er selbst Mensch wurde. Gott hat sich in Jesus persönlich offenbart. Das Wesen Gottes wird sichtbar. Jesus sagt: Wer mich sieht, sieht den Vater (Johannes-Evangelium).

In Hebräer 1,1-3 lesen wir: „In der Vergangenheit hat Gott in vielfältigster Weise durch die Propheten zu unseren Vorfahren gesprochen. Aber jetzt, am Ende der Zeit, hat er zu uns gesprochen durch den Sohn. Ihn hat Gott dazu bestimmt, dass ihm am Ende alles als sein Erbbesitz gehören soll. Durch ihn hat er auch am Anfang die Welt geschaffen. Die ganze Herrlichkeit Gottes leuchtet in ihm auf; in ihm hat Gott sein innerstes Wesen sichtbar gemacht.“

Und von Jesus sagt uns die Bibel: Jesus Christus verkörpert die Weisheit Gottes. Wir lesen in 1 Korinther 1,24: „Aber alle, die von Gott berufen sind, Juden wie Griechen, erfahren in dem gekreuzigten Christus Gottes Kraft und erkennen in ihm Gottes Weisheit.“

Gottes Weisheit erschließt sich denen, die sich dem Wirken des Heiligen Geistes nicht widersetzen.

Wir dürfen auf keinen Fall denken oder sagen, dass Menschen, die nicht glauben, dumm sind. Wir erheben uns dadurch über andere. Ihnen fehlt „nur“ die besondere Offenbarung Gottes. Das ist ein Geheimnis. Für jemanden, der glaubt, ist es ein Geschenk, kein eigener Verdienst. Wir können für Menschen beten, wir können von unserem Glauben und unseren Erfahrungen erzählen. Wir können uns hineinwagen in die Welt. Wirken kann nur der Heilige Geist.

Es heißt in Kolosser 1,9: „Deshalb hören wir auch nicht auf, für euch zu beten, seit wir von euch gehört haben. Wir bitten Gott, dass er euch mit all der Weisheit und Einsicht erfüllt, die sein Geist euch schenkt, und dass er euch erkennen lässt, was sein Wille ist.

Nochmal Hebräer 1,2: Durch ihn, also durch Jesus, hat er auch am Anfang die Welt geschaffen.

 

V.
So komme ich auf die Eingangsfrage zurück: Darf ich in Sprüche 8 Jesus sehen? Kann ich in Sprüche 8 von Jesus reden?

Ja, das kann ich! Ja, das darf ich! Aufgrund der Aussagen des Neuen Testamentes. Aber ich darf mich dabei nicht über die jüdische Auslegung erheben, die darin die personifizierte Weisheit sieht.

Lesen wir noch einmal Sprüche 8 mit dem Blick auf Jesus. Das ist alles sehr geheimnisvoll. Es macht aber wiederum die Größe und Unbegreiflichkeit Gottes deutlich. Da können wir nur anbeten und staunen.

Die Weisheit war von Anfang an dabei. Sie war Gottes Spielgefährtin. Beide freuten sich an der Schöpfung Die ersten Christen haben diese Gedanken aufgegriffen und sie identifizierten die Weisheit mit Jesus. Die Weisheit wird im AT als Schöpfungsmittlerin betrachtet. Die ersten Christen setzen hier Jesus ein. Die Gedanken und Vorstellungen bleiben gleich!

Es heißt in Kolosser 2,3: „In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“ Und in Johannes 1,1: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“

Diese beiden Stellen setzen die Kenntnis der Aussage von Sprüche 8 voraus: Christus ist das Wort Gottes, das in die Welt kommt. Christus war bei der Erschaffung der Welt dabei. Er spielte unter den Augen Gottes. Welch eine schöne Vorstellung!

Jesus möchte den Menschen den Weg des Lebens zeigen. Jesus lädt ein zu einem Leben mit Gott. Jesus ist ganz nah dran am Leben. Er war von Anfang an dabei. Er versteht das Leben. Weisheit wird jeden Tag gebraucht, bei kleinen und großen Entscheidungen und bei den großen Fragen des Lebens. Gerade heute in unserer unsicheren Zeit, bei unserer Informationsflut brauchen wir Weisheit, um uns zurechtzufinden, vieles einordnen zu können. Es gibt eine Sehnsucht, Antworten zu finden, durchzublicken. Jesus möchte uns dabei begleiten.

Es heißt in Spr 8,35: „Alle, die mich finden, finden das Leben und der Herr hat Freude an ihnen.“ Woran erinnert uns das? An Johannes 14,6: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.

Das ist unsere Botschaft, die frohe Botschaft. Ermutigen wir uns gegenseitig und ermutigen wir die Menschen in unserem Umfeld. Beten wir ohne Unterlass für die Menschen, mit denen wir es zu tun haben.