Karfreitag 2024 – Mt 27,33-56 – Annäherungen an den Kreuzestod Jesu – Von Thomas Pichel

A.
Predigttext

33 Nachdem sie an den Ort namens Golgatha gekommen waren, das ist (übersetzt) „Schädelplatz“, 34 gaben sie ihm Wein mit Galle vermischt zu trinken. Aber als er gekostet hatte, wollte er nicht trinken. 35 Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider, indem sie die Würfel warfen. 36 Herumsitzend bewachten sie ihn dort. 37 Und sie brachten oberhalb seines Kopfes die schriftliche Anklage gegen ihn an: „Dieser ist Jesus, der König der Juden.“ 38 Danach kreuzigten sie mit ihm zwei Aufständische, einer zur Rechten und einen zur Linken. 39 Die, die vorübergingen, lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe bewegten 40 und sagten: „Du, der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, hilf dir selbst, wenn du der Sohn Gottes bist! Komm herunter vom Kreuz! 41 In derselben Weise spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten indem sie sagten: 42 „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Ist er der König Israels, so steige er nun herab vom Kreuz und wir werden an ihn glauben. 43 Er hat auf Gott vertraut, der soll nun zur Rettung kommen, wenn er Gefallen an ihn hat. Denn er hat gesagt: „Ich bin Gottes Sohn.“ 44 Gleichermaßen schmähten ihn auch die Aufständischen, die mit ihm gekreuzigt worden waren. 45 Von der sechsten Stunde an geschah eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Um die neunte Stunde schrie Jesus auf mit lauter Stimme, rufend: „Eli, eli, lema sabachthani“, das ist übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 47 Einige aber der dort Stehenden, als sie es hörten, sagten: „Der ruft nach Elia!“ 48 Und sofort rannte einer von ihnen los und nahm einen Schwamm, gefüllt mit Essig, und steckte ihn auf einen Rohrstab. Damit tränkte er ihn. 49 Aber die Übrigen sagten: „Lass es, wir wollen sehen, ob Elia kommt, damit er ihn rette“. 50 Aber Jesus, nachdem er noch einmal mit lauter Stimme geschrien hatte, gab den Atem auf. 51 Und siehe! Der Vorhang des Tempels wurde zerrissen von oben her bis unten in zwei Teile und die Erde wurde erschüttert und die Felsen wurden zerrissen (gespalten) 52 und die Grabstätten wurden geöffnet und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt 53 und – nachdem sie aus den Gräbern herausgegangen waren nach seiner Auferweckung – gingen hinein in die Heilige Stadt und wurden vielen sichtbar gemacht. 54 Aber der Hundertschaftsführer (Centurio) und die, die mit ihm Jesus bewachten, als sie das Erdbeben und die Ereignisse sahen, wurden mächtig von Furcht gepackt, sagend: „Wahrlich, dieser war Gottes Sohn!”  55 Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; 56 unter ihnen war Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.

 

B.
Wie nähern wir uns Karfreitag? Wie predigen wir das Kreuz Jesu?

Karfreitag und Ostern sind keine Rätsel, sondern ein Mysterium, ein Geheimnis. Ein Rätsel löst man. Wenn man es gelöst hat, ist man damit fertig. Mit einem Mysterium, mit einem Geheimnis ist man nie fertig. Es offenbart sich einem. Aber man greift es nicht. Immer wieder verhüllt es sich einem.

Einen Bildvergleich finde ich bei dem Versuch, sich dem Kreuzestod Jesu zu nähern, hilfreich. Der Vergleich heißt: Der Kreuzestod hat zwei Stockwerke.

Im Erdgeschoss geht es um den politischen Mord an Jesus. Jesu Tod war ein unglaubliches Unrecht, ein Gewaltverbrechen. Jesus starb als Märtyrer.

Im zweiten Stockwerk geht es um etwas, was man dem furchtbaren Ende Jesu nicht ansieht. Durch die Auferweckung Jesu ruft Gott uns zum Glauben an den Tod Jesu als Heilsgeschehen auf. Gott will, dass wir seine Botschaft glauben: Das furchtbare Geschehen am Kreuz ist mehr, als ihr denkt. Das Kreuz ist mein Instrument, mit dem ich versöhne, erlöse, befreie, neu mache.

Fußnote: Ich halte es für wichtig, dass wir nicht-glaubende Menschen zunächst in das erste Stockwerk führen und erst danach in das zweite. Es ist nicht gut, wenn wir das Haus auf den Kopf stellen und sofort mit dem zweiten Stockwerk beginnen, indem wir z.B. den Menschen mantra-artig sagen: Jesus ist für dich gestorben… Das funktioniert nicht.

 

I.
Die Annäherung im Erdgeschoss: Was sehen wir da? Wir sehen, dass Jesus ein Opfer (victim) von Menschen ist. Wir sehen seine leidensbereite (Feindes-)Liebe. Wir sehen sein Gottvertrauen. 

1.
Jesus litt daran, dass seine Leute ihn verlassen haben. Seine Jünger sind auf Golgatha nicht dabei. Bis auf den Jüngsten, Johannes! Das wissen wir aus dem Johannes-Evangelium. Der dann aber mehr oder wenig nackt flüchtet. Aber die Frauen, die Jesus nahestanden, sind da. So nahe wie möglich verfolgen sie die furchtbaren Ereignisse. Sie zeigen Jesus ihre Solidarität und Liebe. Vielleicht hat Jesus sie sehen können!

2.
Jesus litt an furchtbaren körperlichen Qualen! Was Menschen Menschen antun können! Was für eine unmenschliche Brutalität!

3.
Jesus litt seelisch an der Koalition der Spötter. Bis auf die Frauen machen alle mit! Die schaulustige Menge. Die Politiker. Die religiösen Führer. Die Soldaten. Sogar die Mitgekreuzigten. Wobei einer der Beiden laut Luk 23 zum Glauben an Jesus kommt!

Der grausame Spott und der blanke Hohn demütigen Jesus, berauben ihn seiner Würde, seiner Ehre und seines Ansehens. Sie stellen Jesus, der völlig entblößt und nackt ist, noch mehr bloß. Jesus wird lächerlich und verächtlich gemacht. Spott und Hohn verletzen. Das zeigen die Adjektive, die wir verwenden. Wir sprechen von bissigem, scharfem, ätzendem Spott und Hohn. Was für eine monströse Mitleidslosigkeit!

Jesus ertrug allen Hohn, allen Hass, alles Unrecht. Er lebte, was er gepredigt hat: Liebet eure Feinde! Bittet für sie! Segnet sie! Wir wissen aus dem Lukas-Evangelium, dass er am Kreuz gebetet hat: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Jesus rief nicht nach Vergeltung, sondern nach Vergebung. Was für eine Herzenshaltung! Was für eine Vergebungsbereitschaft! Was für eine Liebe! Seine Liebe starb nicht, als er starb!

4.
Jesus litt an dem unerträglichen Gefühl, von Gott verlassen zu sein! Aber er schrie nach Gott. Er schrie Gott sein Warum  entgegen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Jesus musste in seinen schwersten Stunden dieses Warum aushalten. Er schwieg es nicht tot. Er beschönigte nichts. Er hielt dieser Frage stand. ER hielt an seinem Gottvertrauen fest.  Er scheint Halt gefunden zu haben in diesem seidenen Faden der Anrede: Mein Gott, mein Gott.

 

II.
Wir schauen uns das zweite Stockwerk an: Was sehen die Augen des Herzens? Was sieht der Glauben, der Gott mit dazu denkt bei diesem Geschehen?

Die Konzepte heißen hier das Leiden Gottes, die Liebe Gottes, aber auch Stellvertretung, Sühne, Gericht, Loskauf…

1.
Die Annäherung über die leidensfähige Liebe Gottes

Die Logik lautet: Wie der Sohn, so der Vater. Oder: Wer Jesus sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Karfreitag sagt uns: Im Leiden Jesu sehen wir das Leiden Gottes an uns Menschen. Karfreitag sagt uns, was Sünden sind: Untaten gegen Gott, gegen andere Menschen und gegen uns selbst.

Das Kreuz Jesu konfrontiert uns Menschen, wie wir uns Gott gegenüber verhalten, wie wir ihn behandeln, welches Unrecht wir ihm und seinen Geschöpfen antun: Wir benutzen ihn, haben 1000 Wünsche, aber ihn selbst wollen wir nicht. Wir stellen ihm Bedingungen! Wir missachten seinen Willen. Wir verletzen seine Geschöpfe. Wir kreuzigen immer wieder die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Liebe. Wir sind bereit, ihn aus Angst oder für unsere Interessen zu opfern, zum Schweigen zu bringen.

Das Kreuz Jesu sagt uns aber auch, dass wir in der Vergebungsbereitschaft Jesu Gottes Vergebungsbereitschaft für uns glauben dürfen. Was für ein Gott! Was für eine leidensbereite Liebe! Gott lässt uns als Täter unserer Sünden nicht im Stich.

2.
Die Annäherung über das Stichwort der Gottverlassenheit.

Dazu stellen wir uns drei Fragen:

Was ist Sünde im Kern? Sünde ist eine Weltmacht. Sie ist in jedem Menschen. Wir wollen mehr sein als ein von Gott abhängiges und ihm verantwortliches Geschöpf. Wir wollen selber die Herren und Frauen über Gut und Böse sein. Wir träumen von göttlicher Macht und Rechten. Wir missachten Gottes Willen und setzen dagegen unseren Willen, unsere Vorstellungen, die wir mit Macht durchsetzen wollen.

Was bewirkt die Weltmacht Sünde? Unser fatales Verlangen, wie Gott zu sein, schädigt unsere Beziehung zu Gott, zu uns selbst, zu anderen, zur Schöpfung. Sünde belastet, gefährdet und verunmöglicht Beziehungen. Sie schiebt und zieht und zerrt jede Beziehung Richtung schwierig, Richtung unmöglich. Und im Blick auf Gott wirkt sie absolut toxisch und destruktiv. Sie vertreibt Gott. Sie bestraft uns mit Gottverlassenheit, mit einer unmöglichen Gottesbeziehung.

 Was denkt nun Gott über den Kreuzestod Jesu? Was dürfen wir glauben? Jesus bringt ein freiwilliges Selbstopfer. Gott lässt uns nicht Opfer unserer eigenen Sünde sein! Er erleidet stellvertretend für uns, an unserer Stelle unsere unmögliche und verlorene Gottesbeziehung. Er nimmt uns unser selbstverschuldetes Schicksal ab. Und als Auferstandener beschenkt er uns, indem er uns Gott vermittelt, indem er uns die Gemeinschaft mit Gott vermacht.

Verstehen wir, dass diese Sühne-Idee Gottes nichts anderes als ein unglaubliches Geschenk für uns ist! Was für ein Geheimnis! Lassen Sie es mich persönlich sagen: Ich muss das nicht (mehr) rational verstehen. Aber es berührt mich sehr! Es macht mich froh! Weil ich darin den unbedingten Liebeswillen Gottes sehe, mit mir zusammen zu sein! Weil diese Botschaft die Kraft besitzt, Frieden und Freude zu schenken: Frieden im Gewissen und Freude über die Gottesgewissheit.

3.

Die Annäherung über die endzeitlichen Erwartungen zurzeit Jesu. 

Dieses Thema war damals ‚in‘. Es gab sehr viel Literatur dazu. Einiges steht in unserem Alten Testament. Einiges in jüdischen Fachzeitschriften. Die Fragen lauteten: Wann kommt das Gericht Gottes? Wann kommt der Messias? Und was wird dann alles geschehen?

Folgende konkrete Erwartungen gab es damals:

Das Gericht Gottes. Ein Tag des Herrn als ein Tag der Finsternis (siehe Amos 8,9).
Der freie Zugang zu Gott. Das Ende des Tempels.
Erdbeben als Zeichen für das Ende der alten Erde. Die Neuschöpfung.
Die Auferstehung der Toten.

Unser Predigttext sagt nun: Das Kreuz Jesu erfüllte auf erstaunliche Art und Weise all diese Erwartungen. Als Jesus starb, gab es ein Präludium, ein Vorspiel mit eröffnendem und hinführendem Charakter. Alles, was am Ende der Endzeit kommen wird, war am Beginn der Endzeit schon da.

1.
Von der sechsten Stunde an geschah eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.

Als Jesus geboren wurde, wurde die Nacht zum Tage. Der geöffnete Himmel brachte Licht in die dunkle Nacht! Als Jesus stirbt, wurde aus Tag Nacht! Es war von 12.00 Uhr bis 15.00 Uhr stockdunkel.

Als ob das „Es werde Licht“ (1 Mo 1,3-5), das Schöpfungstatwort am Anfang zurückgenommen wurde. In der griechischen Welt war die Finsternis in den Sterbestunden eines Menschen ein Zeichen dafür, dass ein besonderer Mensch stirbt. In der jüdischen Welt ist die Finsternis am helllichten Tag ein Zeichen für den Tag des Herrn, für das Gericht Gottes. (Amos 8,9)

Unsere Welt braucht die Botschaft vom Gericht! Sie ist die heilsame Medizin gegen unsere gigantische Realitätsverweigerung im Blick auf uns selbst! Böse Gedanken, böse Worte und böse Werke sind nie harmlos! Sie sind nie zu entschuldigen! Sie sind toxisch. Sie sind hochgefährlich. Das Gericht zeigt uns, welche Haltung Gott gegenüber allen Spielarten des Bösen einnimmt. Gott sagt Nein, radikal und kompromisslos Nein, immer und ausnahmslos Nein zum Bösen! Dass Gott das aber tut, ist keine Drohbotschaft, sondern Evangelium! Er wird alles Böse vernichten. Er wird das Gute wiederherstellen. Und er wird für alle Opfer dieser Welt für Gerechtigkeit sorgen.

Unsere Welt braucht aber auch die Botschaft von diesem merkwürdigen Richter, der höchst befangen ist, der eine Schwäche für die Schuldigen hat. Sie braucht die Botschaft von diesem Richter, der uns unsere Gottverlassenheit abnimmt, der uns die Gottesbeziehung rettet, der aber auch unsere Menschlichkeit rettet, weil er uns die Möglichkeit schenkt, ein anderer Mensch zu werden!

Deshalb feiern wir heute an Karfreitag den Richter unseres Lebens, der unser Retter ist! Deshalb feiern wir sein Vergeben und Erlösen!

2.
Im Moment des Todesschreies Jesu wurde im Tempel der Vorhang zum Allerheiligsten zerrissen. Das ist das oft in der Bibel vorkommende Passiv, mit dem Gottes Handeln ausgesagt wird. Das heißt: Gott selbst zerriss den Vorhang, dieses Symbol für die Grenze und Gefährlichkeit einer unmittelbaren Gottesbegegnung.

Deshalb feiern wir heute, dass der Weg zu Gott frei ist, dass wir die wichtigste Beziehung unseres Lebens in Frieden und mit Freude leben dürfen.

3.
Im Moment des Todesschreies Jesu wurde die Erde erschüttert und die Felsen zerrissen. Hier steht das gleiche Wort wie beim Vorhang im Tempel. Und wieder steht die Aussage im Passiv! Das heißt: Gott hat das getan. Gott inszenierte ein Vorspiel des Abbruches der alten Erde!

Deshalb feiern wir heute an Karfreitag diese universale, globale Hoffnung, dass Gott diese alte Erde nicht einstampfen, sondern verwandeln wird in eine neue Erde, in eine neue Welt!

4.
Im Moment des Todesschreies Jesu wurden Gräber geöffnet. Wieder die Passivform! Das heißt: Gott inszenierte ein Vorspiel der Auferstehung der Toten! Das heißt: Gott hat das Thema Sterben und Tod völlig verändert.

Deshalb feiern wir heute an Karfreitag diese persönliche Hoffnung, dass auch wir auferstehen werden und dass wir wegen Jesus ganz anders leben können und, wenn es soweit sein wird, ganz anders werden sterben können!