A.
Hinführung
1.
„Ich bin überzeugt, Glaube kann das Beste aus uns Menschen herausholen. Was uns heilig ist, kann Kräfte zum Guten in uns mobilisieren: Ausdauer, Hoffnung, Nächstenliebe. Kann uns friedfertig machen und vergebungsbereit. Glaube kann unter extremen Bedingungen Stärke verleihen und Mut.
Aber leider ist auch das andere wahr: Glaube kann das Schlimmste bewirken. Kann uns besserwisserisch machen, intolerant, ignorant, kalt und hart. Sogar gewalttätig.
Glaube kann verbinden, über Grenzen hinweg. Und kann ausschließen. Kann Versöhnung stiften und Feindbilder schüren. Kann hingebungsvoll dienen und gnadenlos Machtpolitik betreiben…“ (Christina Brudereck, in: Reformation des Herzens, S.178)
Glauben kann Gräben graben, die trennen. Glaube kann Brücken bauen, die verbinden.
2.
Jesus ist unser Brückenbauer vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, von Gott zu uns. Und er ist derjenige, der versucht, Brücken zwischen den Menschen zu bauen.
B.
Das sehen wir an folgender Geschichte aus dem Lukas-Evangelium. Ich lese den Predigttext Luk 7,36-50 abschnittsweise.
Ich verdanke diese Predigt Siegfried Zimmer und Siegfried Kettling.
I.
Die Einladung zum Essen und ein unverhoffter Besuch
36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch. 37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl 38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.
In unzähligen Predigten wurde und wird gesagt: Der Pharisäer Simon wollte Jesus auf den Zahn fühlen. Das steht nicht da. Das ist ein antijüdisches Klischee.
Jemanden zum Essen einzuladen, war und ist im Orient eine Ehrensache und eine Frage der Wertschätzung. Es ist übrigens auch eine Vertrauenssache. Denn der männliche Gast sieht die Frau und die Töchter unverschleiert.
Dass Simon Jesus ehrt, zeigt auch das griechische Wort für Essen. Es meint ein Festessen. Man liegt zu Tisch, genauer auf flachen Matten, auf der linken Seite, mit den Füßen nach hinten. Die Schuhe hat man ausgezogen. Wichtig ist auch: Nur die Männer sind dabei. Die Frauen essen in der Küche.
Lukas benutzt die orientalische Aufmerksamkeitsformel „Und siehe!“ Die Logik ist ungefähr so, wie wenn ein Freund einem anderen folgendes erzählt: Stell dir vor, was passiert ist! Da kommt eine Frau herein. In diese Männerrunde. Noch dazu eine stadtbekannte Frau, eine Prostituierte. Stell Dir vor: Die Leute waren total perplex. Wie erstarrt und gelähmt! Keiner warf sie raus! Keiner schimpfte über sie! Was wollte die Frau! Was die sich traute!
Dann fragt der Freund dem, der das erzählt: Und was tat die Frau? Die Antwort lautet nach unserem Text so: Die Frau weinte. Sie muss innerlich sehr bewegt gewesen sein. Sie näherte sich Jesus mit einer Alabasterflasche. Sie trug ihr Haar offen (Was eine Frau in Anwesenheit fremder Männer damals nie hätte tun dürfen. Das war ein Scheidungsgrund!) Sie salbte Jesus die Füße mit einem sehr teuren Salböl. Normalerweise cremte man damit das Gesicht und die Haare ein. Und sie küsste unaufhörlich die Füße Jesu.
Wir klinken uns aus und schauen uns kurz das Küssen an. Küssen war und ist im Orient verbreitet und genau geregelt. Man küsst sich normalerweise auf die Wange. Man küsst sich nur in der Familie und nur mit Menschen, die den gleichen gesellschaftlichen Stand haben. Untergebene gehen auf die Knie und küssen die Hand. Leibeigene fallen auf den Boden und küssen die Füße.
Das Handeln der Frau war also ein Bekenntnis, das alle in diesem Raum sofort verstanden. Die Frau sagte zu Jesus ohne Worte: Mein Leben gehört Dir. Denn ich verdanke dir mein Leben. (Du bist mein Lebensretter. Ich küsse dich, meinen Retter).
II.
Ein Selbstgespräch Simons, das Jesus lesen kann, so dass er sich als Prophet erweist
39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein/der Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
Simon reagiert nicht entrüstet, nicht cholerisch, nicht aggressiv. Er bleibt ruhig. Er wirft die Frau nicht hinaus.
Für ihn ist der Vorfall ein Testfall. Seine Logik lautet: Ich kann testen, ob Jesus prophetisch begabt ist oder nicht, ob Jesus der verheißene und erwartete Prophet ist oder nicht. Simon reagiert enttäuscht auf Jesus. Jesus hat keine Ahnung, was das für eine Frau ist. Für Simon ist die Sache klar. Er ist sich über die Unkenntnis Jesu sicher. Der Gedanke, dass Jesus weiß, um wen es sich bei der Frau handelt, und Jesus die dennoch gewähren lässt, dieser Gedanke ist für ihn unmöglich und ausgeschlossen.
III.
Jesus erzählt eine Mini-Geschichte, um Brücken zu bauen
40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? 43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
1.
Jesus versucht, Simon zu erreichen, zu gewinnen.
Er versucht, Simon und die Frau zusammenzubringen. Jesus versucht einen Weg, damit diese beiden Menschen zueinanderkommen, sich nahekommen. Er versucht es mit Hilfe einer Geschichte. Er versucht es mit Hilfe der Liebe Gottes.
2.
Schauen wir uns deshalb dieses meisterhaft erzählte Kurz-Gleichnis an!
Die Geschichte hat einen Ort. Es ist das Haus des Geldverleihers. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es diese Häuser. Da ging man nur hin, wenn man in Not war. Es ist ein dunkler Ort in einer notvollen Welt. Es ist ein Schiefe-Ebene-Ort.
Geldverleiher sind Profis. Sie leben davon, dass sie Gefühle wie Barmherzigkeit und Mitleid ausschalten.
Der Geldverleiher in der Geschichte Jesu ist sehr merkwürdig, ja komisch! Ob das in der Realität je vorkam? Eher sehr selten! Was war das Motiv für den Schuldenerlass des merkwürdigen Geldverleihers? Weil keiner die Schulden (einmal sind es zwei, einmal 20 Monatsgehälter) bezahlen konnte, schenkte der merkwürdige Geldverleiher beiden Schuldnern den Schuldenerlass. Wieder ist das griechische Wort ein besonderes. Dieses Wort ist das Wort für das herzlichste Schenken, das man sich vorstellen kann. Dieses Wort kommt zwischen sehr guten Freunden vor.
Wir können ahnen, was Jesus mit dieser Mini-Geschichte dem Simon, allen anwesenden Männern, der Frau, aber auch uns heute Vormittag sagt. Ich denke, es sind drei Botschaften:
Erste Botschaft: Gott sieht den Unterschied. Gott nimmt die Unterschiede zwischen den Menschen ernst. Er sieht den Unterschied zwischen einem Lügner und einem Nicht-Lügner. Er sieht den Unterschied zwischen einem Egoisten oder einem, der anderen dient.
Zweite Botschaft: Trotz aller Unterschiede gilt: Wenn die Zahlung fällig ist, kann keiner bezahlen! Dann sind wir Menschen alle gleich! Denn wir alle sind Gott unglaublich viel schuldig geblieben in unserem Leben: an Vertrauen, an Liebe, an Gehorsam, an Demut, an Dankbarkeit…
Dritte Botschaft: Gott ist „merkwürdig“. Er ist barmherzig. Er erlässt die Schulden. Die Gründe: Es kann keiner bezahlen. Und er will es so!
Was ist der Clou, die Pointe des Gleichnisses? Das Gleichnis schafft eine Verbindung zwischen den beiden Schuldnern! Am Anfang haben sie scheinbar nichts Gemeinsames. Am Ende sitzen sie im gleichen Boot. Am Ende denken sie beide sehr gerne an den Geldverleiher! Am Ende teilen sie ein gemeinsames Glück! Es gibt im Gleichnis nur zahlungsunfähige Beschenkte!
Diese Mini-Geschichte hat eine große verbindende Kraft! Sie führt die beiden Menschen näher zueinander. Beide erleben überraschenderweise eine entgegenkommende, barmherzige Realität. Gegen alle Erwartungen und Befürchtungen! Völlig überraschend! Über Bitten und Verstehen!
Die Handlung des barmherzigen Geldverleihers hat befreiende und entlastende Kraft. Sie befreit von der Selbstverachtung durch die Verschuldung, durch die Abhängigkeit, durch die Armut. Der Geldverleiher gibt beiden ihre Würde zurück. Er bewahrt sie davor, dass sie das Gesicht verlieren, ihre Ehre verlieren, ihre Freunde, ihr Leben…
Das ist der Clou, die Pointe des Gleichnisses!
IV.
Was macht die Liebe Gottes mit einem Menschen, in einem Menschen, aus einem Menschen?
44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
1.
Ich staune über den Vers 44: Jesus wendet sich der Frau zu, sieht sie an und spricht zu ihr. Als ob er ihr zu verstehen geben will: Ich verstehe alles, was du getan hast. Sorry, wenn ich jetzt über dich reden werde. Du brauchst keine Angst davor haben. Und zu Simon sagt er: Simon, siehst du diese Frau? Du bekommst nur einen neuen Blick für diese Frau, wenn du einen neuen Blick für dich gewinnst!
2.
Jesus vergleicht das Verhalten der Frau mit dem Verhalten Simons. Vergleiche sind immer schwierig. Und dieser Vergleich wurde in unzähligen Predigten meines Erachtens missverstanden. Die Logik war immer anti-jüdisch, anti-pharisäisch, anti-simonisch. Motto: Jesus kritisiert den Simon. Er liest ihm die Leviten. Nein! Simon hat nichts versäumt. Er hat nichts falsch gemacht. Er hat sich nicht ungehörig Jesus gegenüber verhalten.
Warum hätte Simon Jesus die Füße waschen sollen? Das war nicht üblich. Und wenn, dann machte das nie der Hausherr! Entweder man wusch sich selbst die Füße oder es machten Diener!
Warum hätte Simon Jesus das Haupt salben sollen? Das ist völlig abwegig in der damaligen Zeit und Kultur!
Warum hätte Simon Jesus die Füße küssen sollen? Das ist noch absurder!
3.
Die Logik dieses Vergleichs ist eine andere! Jesus sagt mit diesem Vergleich Simon folgendes:
„Simon, wenn du die Erfahrung der Frau gemacht hättest, wenn das in dir lebendig wäre, was in dieser Frau lebendig ist, dann hättest du genau das gemacht, was die Frau getan hat. Du hättest dich so gefreut, dass du mit einem ganzen Wassertrog gekommen wärst, dass du mir einen dicken fetten Kuss gegeben hättest.
Merken wir die Logik Jesu? Es ist völlig okay, was Simon alles nicht getan hat. Aber es ist etwas ganz Besonderes, wenn jemand all das tut, was die Frau gemacht hat.
Merken wir, was Jesus bei der Frau erkannt hat? Die Frau steht dem Geheimnis des Lebens sehr nahe. Sie ist dankbar. Denn ihr ist viel vergeben worden, deshalb liebt sie jetzt viel. Die Frau hat eine Erfahrung mit der Vergebung gemacht. Das merkt man daran, dass sie sehr stark lieben kann, dass sie sehr liebt, dass sie Jesus sehr liebt.
Noch ein Gedanke zum Lieben: Das deutsche Wort „Lieben“ ist sehr emotional. Unsere Vorstellung von Lieben kommt von der Romantik her. Das hebräische Wort ist nicht so emotional aufgeladen. Es heißt: Ich bringe meine Dankbarkeit zum Ausdruck. Wenn ich sehr dankbar bin, dann liebe ich.“ (Siegfried Zimmer)
V.
Die Frau findet ihr Zuhause (Nach Siegfried Kettling)
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? 50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
1.
Jetzt spricht Jesus zu der Frau. Die übrigens im ganzen Text kein einziges Wort sagt.
Wir können uns fragen, warum die Frau eigentlich zu Jesus gekommen ist? Sie muss vorher Jesus begegnet sein! Sie muss von Jesus gehört haben, sie muss ihn beobachtet haben. Sie muss gespürt haben, dass Jesus sie nicht verachtet, nicht missachtet, dass Jesus Ja sagt zu ihr.
Nun hört sie das endgültige Ja! Sie kommt durch Jesus zur Gewissheit: Ich bin bei Gott zuhause. Ein Zuhause läuft nicht weg. Das bleibt. Da habe ich Bleiberecht. Da steht offen. Da bin ich herzlich willkommen.
Dostojewski sagt einmal: Jeder Mensch braucht einen Menschen, bei dem er nachhause kommen kann.
Die Frau erfährt das Evangelium: Jesus stellt sich auf die Seite der Frau. Er rechtfertigt sie. Ich darf dazu gehören.
Die Frau erkennt: Jesus versteht mich und meine Biographie 1000x besser als jeder Mensch. Er vergibt mir gern und restlos. Ich muss nichts für seine Liebe tun oder geben. Ich muss nicht erst verändern, damit er mir seine Liebe schenkt. Ich darf sein. Ich darf weinen, schreien, schweigen.
2.
Jesus schenkt der Frau einen Neuanfang. Jesus spricht Worte zu der Frau, die heilen, die einen Neuanfang schenken, die das Leben in einen ganz anderen Zusammenhang stellen, die dem Leben Zukunft schenken.
„Dir sind deine Sünden vergeben!“ Sie hat so viel Zerstörerisches gelebt und erlebt. Mit diesen Worten löst Jesus sie los von ihrer Vergangenheit. Von allem, was bisher ihr Leben geprägt und bestimmt und kaputt gemacht hat. Alles, was war, darf nicht mehr binden. Du darfst noch einmal von vorne anfangen. Ohne Schulden, ohne Hypotheken, ohne Altlasten. Ganz egal, was bisher war: Deine Sünden sind dir vergeben.
„Dein Vertrauen hat dich gerettet“. Dass du es gewagt hast, zu Jesus zu gehen, auf diese Karte alles zu setzen, ihm zu vertrauen, dich ihm anzuvertrauen, zu glauben, dass er anders ist als alles, was du bisher erlebt hast. Dieses Vertrauen in den einen hat dich gerettet.
„Geh hin in Frieden!“ Du darfst versöhnt leben. Versöhnt mit dir selbst. Versöhnt mit deiner eigenen Geschichte. Versöhnt mit all dem, was nicht gut gelaufen ist. Versöhnt mit deiner Schuld. Diese Worte gibt es sonst nirgends in dieser Welt.