Wie können wir sein, was wir sind: Empfangende und Gebende? – Unser missionarisches Engagement Teil 2 – Von Thomas Pichel

A.
Einleitung: Eine kleine Übung zum Empfangen und Geben

1.
Wir haben in der Predigt (Berufung und Quelle) gesagt, wir müssen unterscheiden zwischen der Quelle unseres Lebens und unseren Aufgaben.

Wir sind aufgerufen, berufen zu verschiedenen Tätigkeiten. Wir sollen Verantwortung für andere übernehmen. Wir sollen unseren Nächsten dienen. Da müssen wir nicht perfekt und fehlerfrei sein. Aber wir versuchen unser Bestmögliches – zur Ehre Gottes und zum Segen für andere.

Wenn es um die Quelle unseres Lebens geht, wenn wir fragen, woher wir alles empfangen, was wir brauchen, müssen wir nicht gut sein. Die Frage nach unserer Lebensquelle bedeutet: Es kommt auf die Zuverlässigkeit der Quelle und auf die Qualität des Quellwassers an. Wir selbst sind Empfangende. Wir dürfen empfangen.

2.
Deshalb lade ich uns zu einer kurzen Übung ein. Unser Leben hat den Rhythmus von Empfangen und Geben. Diesen Rhythmus sehen wir auch in der doppelten Identität von Christenmenschen. Diese doppelte Identität kann uns folgende Übung vor Augen malen.

Wir stellen uns vor: Wir schauen nach vorne. Wir schauen auf Jesus. Er ist unser Hirte. Wir stellen uns vor: Wir drehen uns zur Seite, wir drehen uns um. Wir schauen auf Menschen. Wir sehen Menschen.

Im Blick auf Jesus sind wir Schafe. Er ist unser Hirte. Im Blick im Blick auf andere Menschen sind wir Assistenzhirten des Guten Hirten. D.h. wir übernehmen Verantwortung für andere!

Im Blick auf Jesus sind wir seine Nachfolger, im Blick auf andere Menschen sind wir Vorausgehende und Vorbilder.

Im Blick auf Gott sind wir Hörende, im Blick auf andere sind wir Verkündigende. Wir hören auf Jesus und haben so etwas zu sagen für andere.

 

B.

Die Frage ist nun: Wie können wir sein, was wir sind? Wie können wir Empfangende und Gebende sein?

Wie können wir das leben? Wie empfangen wir etwas von Gott, wie empfangen wir etwas aus unseren Quellen?

Wie können wir etwas weitergeben? An unsere Nächsten! An Menschen, für die wir Verantwortung tragen? An unsere Glaubensgeschwister! An Freunde und Kollegen!

Hier nun meine Antworten. Es gibt natürlich mehr. Ich hoffe, die Antworten sind hilfreich.

 

I.
Eine Antwort liegt in den Stichworten Faszination und Wertschätzung

Ich möchte das zeugnishaft von mir sagen. Ich habe 1982 die Faszination Jesu entdecken dürfen. Eine große Rolle spielte dabei das Johannes-Evangelium. Es wurde sehr schnell mein Lieblingsevangelium. Es war wie eine erstaunliche Offenbarung, wie eine alles verändernde Entdeckungsreise, wie eine neue Welt.

Eine Besonderheit unter vielen des Johannes-Evangelium besteht darin, dass von Anfang an Jesus der erhöhte und auferstandene Gottessohn ist. Er wird mit allen Hoheitstitel und Ehrenbezeichnungen vorgestellt.

Das erste Kapitel bringt eine Fülle (1,16) an Würde- und Hoheitstitel Jesu, die uns deutlich machen: Jesus ist unsere Lichtgestalt, unser Hoffnungsträger, unsere Quelle: das ewige Wort (1,1); Gott (1,1c, 18b); das Leben (1,4); das Licht (1,4); der einziggeborene Sohn (1,18); das Lamm Gottes (1,29.34); der Sohn Gottes (1,34.49); der Christus = Messias (1,41.45); der König Israels (1,49); der Menschensohn (1,51)

Diese Titel sind nicht ohne Mittel. D.h. in all diesen Zuschreibungen und Titel stecken Evangelien, gute Nachrichten für uns. Die Liebe Jesu ist gepaart mit seiner Macht. Und diese Macht kommt uns zugute. Der Grundgedanke dabei ist folgender: Gott gibt uns alles, was wir zum Glauben brauchen, was wir zum Leben brauchen, durch den Kontakt mit Jesus.

In Joh 1,16 heißt es: Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Das ist der Clou im Christsein: Wir dürfen von Jesu Fülle Gnade um Gnade nehmen, immer wieder, jeden Tag, jede Nacht, Wort um Wort, Vergebung um Vergebung, Segen um Segen, Hilfe um Hilfe, Trost um Trost, Hoffnung um Hoffnung, Freude um Freude.

 

II.
Eine Antwort liegt in dem Stichwort „Harte Nüsse“

1.
Der christliche Glaube übernimmt aus der Bibel die Themen Sünde und Kreuz. Diese Themen sind sperrig, triggy, herausfordernd, konfrontativ. Sie sind harte Nüsse.

Die Bibel konfrontiert uns mit dem, was sie Sünde nennt. Es gibt keinen Menschen, der nicht wüsste, was Sünde anrichtet. Auch wenn er das Wort nicht kennt. Sünde erleiden wir, wenn etwas zwischen Menschen vorfällt, etwas Destruktives, etwas Toxisches, und die Beziehung schwer beschädigt ist, die Begegnung schwierig bis unmöglich wird. Sünde ist das, was uns voneinander wegzieht und wegbringt, was uns von Gott wegzieht und wegbringt.

Und die Bibel konfrontiert uns mit dem Kreuzestod Jesu. Das ist eine harte Nuss. Der natürliche Mensch reagiert darauf mit Unverständnis oder mit Empörung.

Wir ersparen uns und anderen diese harten Nüsse nicht. Wir schauen der Wahrheit ins Auge. Wir tun es, weil wir wissen, dass sie weiche Kerne, beste Inhalte und frohmachende Nachrichten für uns Menschen haben. Wir tun es, weil wir uns diesen Nöten stellen müssen und weil wir Gutes zu erzählen haben.

2.
Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt (Joh 1,29)

Ich bin im Frühjahr 1982, als mir der Glaube geschenkt wurde, auf dieses Wort gestoßen. Was für ein köstlicher Inhalt! Was für eine gute Botschaft!

Was für ein köstlicher Inhalt! Was für eine gute Botschaft! Jesus trägt meine Schuld weg. Entsorgt sie. Das kann mir kein Mensch tun. Das kann ich mir selbst nicht tun. Ich kann meine Schuld verdrängen. Ich kann sie abstreiten. Ich kann andere beschuldigen. Ich kann sie zu kompensieren suchen durch Wiedergutmachungsversuche, durch den Anschein eines moralisch besonderen Lebens. Aber es funktioniert nicht.

Und hier gilt nun: Wir haben so viel Gutes zu erzählen!

Jesus trägt meine Sünde weg. Er nimmt sie mir ab. Alles, was mein Gewissen belastet, wird mir abgenommen und entsorgt. Ich habe für diese Botschaft ein Bild aus einem Film vor Augen. Ein Mann nimmt einer Frau eine Last von den Schultern, die sie niederdrückt und das Weiterlaufen unmöglich gemacht hat. Das ist eine entlastende Botschaft: So behandelt Jesus mich. So handelt er für mich.

Jesus trägt mich, wo ich mich selbst erleide, wo ich erleide, was ich versäumt habe, was ich bei anderen angestellt habe, wo ich Menschen verletzt habe, wo ich erleide, was jemand einmal unsere Selbstunerträglichkeit genannt hat. Es ist eine unangenehme Wahrheit über uns. Wir ertragen uns selbst nicht. Auch da habe ich ein Bild vor Augen. Gemeindefreizeit. Wanderung in Österreich. Ein Vater trägt seinen Sohn, weil der nicht mehr kann. Das ist eine entlastende Botschaft: So behandelt Jesus mich. So handelt er für mich.

3.
Deshalb noch einmal Joh 1,16: Von seiner Fülle haben wir genommen Gnade um Gnade. Wir empfangen von Gott Gnade um Gnade, d.h. Schuld-Abnahme um Schuldabnahme, Getragenwerden um Getragenwerden.


III.
Eine dritte Antwort, wie wir leben können, was wir sind, liegt in den Stichworten Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis

1.
Lasst uns dazu kurz überlegen! Wenn wir uns irgendwo vorstellen müssen, was antworten wir auf die Frage, wer wir sind. Was verschweigen wir? Vielleicht ein Scheitern? Unsere Schwächen? Was heben wir hervor? Vielleicht unsere Stärken, Fähigkeiten und Erfolge?

Ich bin überzeugt, dass es für uns selbst sehr wichtig ist, aber auch für andere, wenn wir wissen, wer und was wir nicht sind, was wir können und nicht können.

2.
Johannes jedenfalls weiß das. Er antwortet feierlich. Wir lesen in Joh 1,19f: Sie fragten ihn: Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht und er bekannte: Ich bin nicht der Christus?

Was bedeutet diese Verneinung? Sie bedeutet Selbsterkenntnis und Christuserkenntnis. Johannes weiß, dass Gott durch Jesus, durch seinen Sohn, durch seinen Messias als Erlöser wirkt. Und er weiß, dass er selbst nicht der Messias ist.

Was bedeutet diese doppelte Erkenntnis für uns?

Ich bin mir nicht alles. Jesus ist mir alles.

Die Welt liegt nicht auf meinen, sondern auf den Schultern Jesu.

Ich muss nicht den Glauben an mich selbst leben! Ich bin nicht die Lichtgestalt, nicht die Erlöserfigur, nicht der Retter meines Lebens.

Ich muss nicht auf Wasser laufen, nicht Wasser in Wein verwandeln, nicht die Welt retten; ich muss nicht so tun, als wäre ich Jesus, dem nichts unmöglich ist.

Ich bin nicht der, der alles im Griff und unter Kontrolle hat, der jede Situation meistert, der immer eine Antwort hat, der immer eine Lösung findet.

Ich bin nicht maßgeblich und entscheidend. Ich bin nicht unersetzbar.

Das ist befreiend ohne Ende. Es hat etwas enorm Entlastendes, wenn ich alle Allmachtsphantasien und die darauffolgenden Ohnmachtsgefühle aufgeben darf und wenn ich schlicht das sein und werden darf, was ich durch Gottes Gnade und Erwählung bin: ein geliebtes Kind, ein gewollter Bruder, ein wertgeschätzter Freund.

Es ist doch so, dass wir immer wieder nicht erschöpft und müde sind von dem, was wir tun, sondern von den überhöhten Erwartungen, die wir an uns selbst stellen, die wir aber nicht erfüllen können. Wir können durch überzogene Selbstbilder schon erschöpft und müde sein, bevor wir irgendeine Tätigkeit begonnen haben.

Es ist doch so, dass wir immer wieder nicht erschöpft und müde sind von dem, was wir tun, sondern von den überzogenen Erwartungen anderer, die an uns herangetragen werden, die wir aber nicht erfüllen können.

Falsche Selbstverpflichtungen und Rollenzuschreibungen entkräften uns, überfordern uns, brennen uns aus, so dass wir für das, wofür wir eigentlich brennen möchten, nicht mehr brennen können.

 

IV.
Eine letzte Antwort finden wir in Joh 3,28-30 

Johannes der Täufer war zu Beginn des öffentlichen Wirkens in Israel ein Starprediger. Zu ihm wollten alle. Ihn wollten alle hören. Johannes sagt einmal zu seinen Anhängern und Schülern. “Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihm zuhört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.” 

1.
Diese Überzeugung „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ betrifft zunächst nur Johannes den Täufer. Als charismatische Persönlichkeit steht Johannes im Zentrum des Geschehens. Wie gesagt: Er ist ein Star. Er hat Schüler, Unterstützer und Anhänger ohne Ende. Aber in der Begegnung mit Jesus wird ihm bewusst, dass er nicht der Bräutigam ist, dass er nicht so wichtig ist wie Jesus, dass er nicht die Quelle ist, aus der die Menschen trinken.

Johannes, der Täufer, begreift, dass Jesus größer ist als er. Er hat die menschliche Größe, das anzunehmen, ohne frustriert zu sein. Er kann einen Schritt zurücktreten. Er kann seine Schüler, seine Anhänger loslassen. Er kann sie übergeben an Jesus.

Johannes begreift seine Lebensaufgabe, seine Berufung: Ich bin jemand, der die Größe Jesu bezeugt. Ich bin ein lebendiger Hinweis auf Jesus. Ich bin eine Stimme, die auf Jesus verweist.

2.
Diese Überzeugung „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ betrifft nun auch uns. Sie ist für unser Selbstverständnis und für unseren Umgang mit anderen Menschen und damit auch für unser missionarisches Engagement von großer Bedeutung.

Im Blick auf Jesus sind wir die Braut, im Blick auf Nichtchristen, die Jesus leider nicht kennen, sind wir der Freund des Bräutigams.

Wir sind nun nicht berufen, um unsere Größe, unsere Besonderheit, unser perfektes Christsein, unsere angebliche moralische Vorzüglichkeit zu performen, darzustellen. Wir sind dazu berufen, die Größe Jesu zu bezeugen, seine Einmaligkeit, seine Einzigartigkeit…

3.
Dazu ist es aber notwendig, dass wir um anderer willen zurücktreten können, dass wir uns zurücknehmen können, dass wir uns selbst relativieren können.

Beispiel 1: Ich spiele nicht den Vertreter einer Disziplinarmacht, der jedem sagt, wie er zu leben hat. Ich hüte mich davor, über die Gewissen der Menschen herrschen zu wollen. Wenn man mich fragt, sage ich, was ich denke und wie ich das von der Bibel her sehe. Ich will die Last aushalten, dass andere Dinge anders sehen. Ich ziehe andere nicht über den Tisch. Ich lasse mir aber auch nicht Gewalt antun, wenn andere mich über den Tisch ziehen wollen (“Nur so kann man das sehen. Das allein ist biblisch!“)

Beispiel 2: Lasst es uns immer neu versuchen, dass wir uns zurücknehmen im Blick auf Gäste unserer Gemeinde, dass wir auf Vertrautes und Liebgewordenes verzichten, dass wir nicht so sehr darauf achten, was wir bekommen (Gott lässt uns nicht zu kurz kommen!), sondern was unsere Gäste, was suchende Menschen bekommen. Ich gebe ihnen Raum, größeren Raum als mir.

Ich lasse meinen Wunsch, meinen Geschmack, meine Vorlieben los, ich nehme mich zurück und sage zum Beispiel Ja zu Liedern, die nicht meine sind, die aber vielleicht für Gäste, für suchende Menschen besser geeignet sind. Amandus Sattler, Bayreuth, LKG-Urgestein, über 90 Jahre alt, sagte auf der Landeskonferenz in Puschendorf: Mir haben die Lieder nicht gefallen. Aber sie müssen mir auch nicht gefallen. Sie müssen den jungen Leuten gefallen!

Beispiel 3: In einer LKG in Magdeburg gibt es zwei junge Prediger, die junge Menschen erreichen wollen. Zweimal im Monat verzichten die älteren Gemeindemitglieder auf ihren normalen Gottesdienst. Die Begründung lautet: Wir haben genug Wortverkündigung. Ihr macht einen Gottesdienst für junge Leute. Und wir beten dafür. Und wir kochen Kaffee und sorgen für ausreichend Kuchen.

 

C.
Unser Vorrecht: Wir bringen uns selbst zu Jesus

Ich gebe uns einige Stichworte. Vielleicht ist das Stichwort dabei, das Sie Jesus bringen sollen und dürfen. Wenn Sie möchten, können Sie Ihre eigenen Punkte auf diese Liste setzen.

Herr, ich bringe dir meine Angst vor der Zukunft, die Gefahr, dass ich aus Angst, verletzt zu werden, zu mache, mich einigle, dass ich hart werde, verbittert werde.

Ich bringe Dir meinen Mangel an Vertrauen, meinen Mangel an Liebe…

Ich bringe Dir meine Sorge, mein Leiden an meiner Ohnmacht, meine Furcht, dass etwas Schlimmes geschieht.

Ich bringe dir meinen Neid auf andere, meinen Neid auf das Leben, was ihnen möglich ist, meinen Neid auf ihren Segen.

Ich bringe Dir meine Müdigkeit, meine äußerliche und körperliche Müdigkeit, meine innere Müdigkeit, mein Erschöpftsein. Ich bringe dir meine Unruhe.

Rede Du mit mir! Ich öffne mich für Dich. Ich halte Dir meine leeren Hände hin. Schenke Du mir das, was ich brauche.

Das Johannes-Evangelium sagt mir, dass Du uns alles bist. Dann vertraue ich darauf, dass du dich mir als alles erweist. 

Herr Jesus, ich danke Dir für Dich. Ich danke Dir, dass ich von Deiner Fülle leben darf! Amen!