5 Mose 30,11-14 – Typisch Judentum, typisch Bibel, typisch Gott – Von Thomas Pichel

A.
Einleitung: Was heißt Glauben?

„Unser Glauben wird nicht zu jeder Zeit das Gleiche heißen.

Es gibt Zeiten, da heißt glauben,
dass wir in etwas Geschehenes einwilligen;
ein andermal, dass wir etwas Gebotenes tun;
ein drittes Mal, dass wir einer Verheißung Glauben schenken und so einen neuen Weg bahnen, den wir im Glauben vor uns sehen…“ Martin Schleske, Der Klang, S. 237

Unser heutiger Predigttext hat die Ebene, dass wir etwas tun, was Gott will, im Fokus und Mittelpunkt.

 

B.

11 Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

 

I.
Die Auslegung des Predigttextes

1.
Was ist damit gemeint, das Gebot sei weder im Himmel noch jenseits des Meeres?

Gott selbst, Gottes Gedanken, Gottes Führungen und Fügen sind ein Geheimnis, sind uns oft bzw. zum Teil unbekannt und unzugänglich.

Aber Gottes Wille, das, was er von uns möchte, ist weder unerreichbar (Himmel) noch unbekannt (Meer). Wir müssen keine Anstrengungen unternehmen, um es in Erfahrung zu bringen.

Gottes Weisungen sind uns zugänglich und begreifbar. Sie sind nichts Übertriebenes und Überzogenes, sondern etwas Machbares, etwas Lebbares.

Gottes Weisungen sind uns nichts Fremdes, Exotisches, Komisches, sondern etwas Naheliegendes, ja Einleuchtendes und Selbstverständliches.

2.
Das heißt nun aber auch. Diese Verse lassen keine Ausrede zu: Dass wir nicht wissen, was wir tun sollen. Das kann sowieso keiner halten!

Diese Verse konfrontieren uns aber nicht nur mit eventuellen Ausreden, sondern mit unseren Versäumnissen, wo wir die Weisungen Gottes nicht leben.

3.
Diese Verse fragen uns jeden Tag: Willst du die Weisungen Gottes leben?

Es heißt ja: „Die ich dir heute gebiete“. Wollen wir die gegebenen Weisungen annehmen, indem wir auf Gott hören und sie tun? Wollen wir zu Gott sagen, wie der junge Samuel in 1 Sam 3,10: „Rede, denn dein Knecht hört!“? Wollen wir das Gehörte tun? In unserem Predigttext ist ja dreimal vom Tun die Rede!

„Im Judentum soll die Religion nicht nur erlebt, sondern gelebt werden… Die fromme Tat gibt dem Bekenntnis sein tragendes Fundament… Auch das Judentum hat sein Wort, aber es ist ein Wort, ‚zu tun‘. „In deinem Munde und in deinem Herzen ist das Wort, es zu tun.“ (v14b) Leo Baeck, Wesen des Judentums, S.52f

Martin Schleske schreibt: „Der Glaube wird erst dann das Selbstsüchtige und Infantile verlieren und etwas Heiliges und Reifes sein, wenn wir begreifen, dass die Gottesbeziehung nicht zuerst erlebt, sondern zuerst gelebt werden will“ (Der Klang, S.107)

Der Jude Jesus von Nazareth sagt dasselbe: „Wer diese meine Rede hört und tut sie…“ (Mt 7,24) (Siehe auch Joh 2,5; Gal 5,6 und Jak 2,17).

4.
Wie sollen wir „hören und tun“? Mit Mund und Herz. Was ist damit gemeint?

a.
Was ist mit Mund gemeint?

Es geht um das Unterweisen der nachfolgenden Generation.

Es geht um ein ständiges Gespräch, einen beständigen Austausch mit anderen über Gottes Willen, über Gottes Weisungen, über Gottes Gebote: Wie ist das gemeint? Was hieß das ursprünglich? Was heißt das heute? Das ist typisch Judentum.

Es geht darum, ob Gottes Weisungen ein Wert für mich sind. Ein Wert ist nur das, was ich auch in der Öffentlichkeit lebe, wozu ich stehe, wozu ich mich vor anderen bekenne.

b.
Was ist mit Herz gemeint?

Gott wünscht unser Herz. Dass es uns ein Herzensanliegen ist, seinen Willen zu tun. Dass wir mit Herzblut das Gute tun. Dass wir von Herzen wollen, was Gott uns anweist. Dass wir an dieser Stelle echt und authentisch sind!

Eine seelsorgerliche Fußnote:
Herz heißt aber auch Offenheit, wenn ich Schwierigkeiten habe, Gottes Willen zu tun, weil ich z.B. in Menschenfurcht lebe, wenn ich in tiefer Anfechtung und Enttäuschung lebe…

Christsein ist mehr als Moral. Christsein ist eine Beziehung, in der ich stehen darf, die ich leben darf, in der ich meinem Gegenüber alles anvertrauen darf.

 

II.
Gott will (also) etwas von uns.

1.
Er hat klare Vorstellungen. Er weiß, was er will. Er ist anspruchsvoll.

Es geht nicht um ein „Limonadenchristentum“ (ein Ausdruck von C.S. Lewis), in dem wir Gott festlegen auf unsere Interessen und Wünsche, in dem wir ein Wirken Gottes erwarten, das unseren Vorstellungen entspricht.

Wir sind als Christen zu mehr berufen als zur Zufriedenheit. Wir sind zu mehr berufen, als dass wir uns um uns selbst drehen: auf der Erde um unser eigenes Wohlergehen; nach unserem Tod um unser Seelenheil. Wir sind zu mehr berufen, als dass wir unsere Lebensumstände zum Thema Nr 1 erklären.

Wir sind dazu berufen, das Gute zu leben, Gerechtigkeit zu praktizieren, zu lieben. Glaube heißt, das uns von Gott Gebotene zu tun.

2.
Ich möchte heute Morgen ein einziges Themenfeld kurz anschauen. Es geht um Gottes Weisungen, die uns zum Nächsten, zu anderen Menschen weisen.

Dazu stelle ich eine zweite Frage: Was ist eine geistliche Erfahrung, eine spirituelle Erfahrung?

Wir antworten vollkommen zurecht: Wir machen eine Gebetserhörung. Wir bekommen zur richtigen Zeit ein Bibelwort. Wir spüren Gottes Nähe und Gegenwart. Wir bekommen neue Kraft

Ich möchte den Begriff spirituelle, geistliche Erfahrung erweitern. Ich tue das mit einer Überlegung des deutschen Theologen Fulbert Steffensky:

Fulbert Steffensky fragt: ‚Was ist eine spirituelle Erfahrung? Es ist die Erfahrung der Augen Christi in den Augen des Kindes. Es ist die Erfahrung der Nacktheit Christi im nackten Bettler…; die Erfahrung des hungernden Christus im Hunger unserer Geschwister. Wer in Gott eintaucht, taucht neben dem Armen wieder auf, sagt der französische Bischof Galliot. Es gibt keine Gotteserkenntnis an der Barmherzigkeit vorbei. (zitiert nach Martin Schleske, Der Klang, S.137)

Das ist typisch Judentum, typisch Bibel, typisch Gott.

 

III.
Alle Weisungen Gottes sind eingebettet in 2 Grundsätzen, die wir in der ganzen Bibel finden.

Auch das ist typisch Judentum, typisch Bibel, typisch Gott!

Sie hängen nicht in der Luft. Sie werden gehalten vom Evangelium, d.h. von Botschaften, die für uns Evangelium, gute Nachricht sind.

1.
Grundsatz 1, frohe Botschaft 1: „Zuerst die Gnade, dann das Gesetz“

In christlichen Predigten wird sehr gerne von der Gesetzlichkeit des Judentums gesprochen und davon, dass Jesus und Paulus die ‚Freiheit vom Gesetz‘ gepredigt hätten. Immer wieder hört man, wie sehr die Juden unter dem ‚Joch der Tora‘ leiden und dass sie sich den Weg zum Himmel durch Gesetzesgehorsam verdienen müssen, während es bei uns die Gnade umsonst gibt.“

Das ist falsch. Das ist ein christliches Vorurteil!

„Auch… in der jüdischen Theologie kommt die Gnade vor dem Gesetzdas Geschenk der Errettung vor dem Geschenk der Tora. Zuerst hat Gott sein Volk aus der Knechtschaft befreit, dann hat er ihm den Weg in ein neues und anderes Leben gezeigt.

Ein altes rabbinisches Gleichnis drückt es so aus:

‚Warum wurden die zehn Gebote nicht schon ganz am Anfang der Tora (5 Bücher Mose) ausgesprochen? Nimm dafür ein Gleichnis. Womit kann man die Sache vergleichen? Mit einem, der in eine Stadt kam und zu den Bürgern sagte: Ich will König über euch sein! Sie antworteten ihm: Hast du uns denn irgendetwas Gutes für uns getan, dass du König über uns sein willst? Was tat er also? Er baute ihnen eine Stadtmauer, leitete ihnen das Wasser zu führte für sie Kriege. Dann kam er wieder und sagte zu ihnen: Ich will König über euch sein! Sie aber antworteten: Ja, aber ja! Ebenso führte Gott Israel aus Ägypten, zerteilte ihnen das Meer, ließ das Manna für sie herabkommen, den Brunnen in der Wüste für sie aufsteigen, die Wachteln für sie aufsteigen und führte für sie den Krieg mit Amalek. Dann sagte er zu ihnen: Ich will König über euch sein! Sie aber sagten zu ihm: Ja, aber ja!‘ (Mechilta de Rabbi Ishmael)

Diese Reihenfolge von Gnade und Gesetz wird ja bereits am Beginn der zehn Gebote deutlich. Auch hier erinnert Gott zuerst an das, was er schon für die Israeliten getan hat. Und dann gibt er die Gebote: ‚Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir‘ (2 Mose 20,2).

Wenn wir … die Geschichte Gottes mit Israel ernst nehmen, dann kam auch hier die Errettung allein aus Gnade. Und das veränderte Leben ist eine Folge dieser Errettung: Weil wir erlebt haben, dass Gott es gut mit uns meint, folgen wir auch seinen Weisungen. Aus Dankbarkeit und aus Vertrauen.“ 
Guido Baltes, Die verborgene Theologie der Evangelien, S.115

Die Botschaft vom gnädigen Gott ist… keine Erfindung des Christentums oder des Neuen Testaments. Sie durchzieht die Bibel von Anfang an und gehört zu den zentralen Grund­überzeugungen des jüdischen Glaubens: Abraham wird aus reiner Gnade erwählt, das Volk Israel wird aus Gnade aus Ägypten errettet. Und zur Vergebung der Schuld hat Gott den großen Versöhnungstag, den Jom-ha-Kippurim, angeordnet, an dem ein Sündenbock die Schuld des Volkes trägt… Das „Evangelium“, die gute neue Botschaft des Neuen Testaments, ist vielmehr das Wort vom Kreuz: Dass nämlich dieser gnädige Gott, der sich schon immer in der Bibel zeigte, nun in Jesus selbst die Sünde der Welt trug. Kern des Evangeliums ist nicht, dass es Gnade gibt. Sondern, wo sie zu finden ist.“ Guido Baltes, in: Warum unser Bild vom Judentum nicht schief hängen sollte

Wir halten fest: Bevor Gott jemanden fragt, ob er seinen Willen leben will, sagt Gott ihm immer erst, was er geschenkt bekommt, geschenkt bekommen hat.

Das heißt wieder: Christsein ist kein Moral-Institut. Die Moral kommt immer erst als Folge. Nie als Grundlage!

Das ist typisch Judentum, typisch Bibel, typisch Gott.

2.
Grundsatz 2, frohe Botschaft 2: Das „heilige Herz der Tora“

a.
Der niederländische Bibelwissenschaftler Hendrik Koorevaar hat in einer detaillierten sprachlichen und inhaltlichen Analyse der fünf Bücher Mose herausgearbeitet, dass sie eine nach innen verschachtelte Gesamtstruktur haben. In der hebräischen Literatur finden wir einen solchen Aufbau sehr häufig. Bibelwissenschaftler nennen sie ‚Inklusio‘. Wie bei einer Zwiebel gibt es eine äußere Rahmenerzählung, die alles umschließt. Darin findet sich ein weiterer Rahmen und darin wiederum einer. So kann man Rahmen und Rahmen um Rahmen identifizieren, bis man zum Kern vordringt: Und in diesem Kern findet sich oft die eigentlich wichtige Aussage des Textes.

Wendet man dieses Verfahren auf die Tora an, die fünf Bücher Mose, dann ergibt sich: Das mittlere Buch ist das 3. Buch Mose, auch Leviticus genannt. Den Mittelpunkt dieses Buches bildet das Gesetz zum Versöhnungstag (Kapitel 16) und die Mitte dieses Kapitels ist Vers 17: ‚So soll er Sühne schaffen für sich und sein Haus und die ganze Gemeinde Israel‘.

Hendrik Koorevaar bezeichnet deshalb diesen Vers, und mit ihm das ganze Kapitel über den Versöhnungstag, als das „Heilige Herz der Tora
(Guido Baltes, Die verborgene Theologie der Evangelien, S.149)

 

Wir halten für uns als Botschaft fest: Die Mitte der 5 Bücher Mose ist die Botschaft von Gottes Versöhnungsbereitschaft, von Gottes Vergebungsbereitschaft, von Gottes Erlösung, von der biblisch verstandenen Sühne (kein Umpolen Gottes, damit er uns lieben kann; kein Tauschgeschäft; sondern Gott selbst stellt ein Opfer zur Verfügung, um uns von unserem Sündenschicksal zu befreien).

Problem- bzw. Themenanzeige: Worin liegt leider der Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum? Die jüdischen Geschwister wissen wie wir, dass wir Gnade benötigen. Leider sehen sie nicht, wo diese Gnade zu finden ist: am Kreuz, beim gekreuzigten Messias. Das können sie bis heute nicht sehen.

Wir atmen auf, wir werden entlastet: Keiner von uns muss seine Schuld verdrängen, verschweigen oder ignorieren oder auf andere abwälzen. Keiner muss sich entschuldigen oder rechtfertigen. Keiner muss seine Schuld zu begleichen versuchen. Jeder von uns darf sie zugeben und bereuen. Gottseidank! Halleluja!

Ein Freund betete immer wieder: Herr, Dir gehören meine Liebe, mein Vertrauen, meine Loyalität, meine Zeit, mein Geld, meine Gaben. – Ich sagte eines Tages etwas dreist: Dein Gebet ist unvollständig. Er: Ja, wieso? Ich antwortete: Du betest nie: Herr, Dir gehört auch meine Schuld.

Die Mitte der Thora, die Mitte der ganzen Bibel lautet, Gottes befreiendes „Gebot“ lautet:

Gib mir Deine Schuld! Ich will sie Dir abnehmen. Ich will Dich davon befreien. Ich will Dich erlösen.