A.
Vorwort
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
Wie nötig hat das unsere Zeit!
Unsere Welt ist nicht von Barmherzigkeit geprägt. Sie leidet unter Gleichgültigkeit oder Unbarmherzigkeit „in Gedanken, Worten und Werken“.
Es gibt in unserer Gesellschaft eine ausgeprägte „Lust am Tribunal“ (Gottfried Bachl). Anklagen ohne Ende. Massive Schuldzuweisungen. Harte Verurteilungen. Nichts wird vergessen und verziehen. Es laufen Prozesse „absoluter Gnadenlosigkeit“ (Matthias Zeindler).
Es gibt unter uns „die neue Lust am ungehemmten Hassen“ (Carolin Emcke). Es werden Feindbilder produziert und Ressentiments gepflegt. Es wird „ungebremst gebrüllt, beleidigt und verletzt“. „Jede innere Schäbigkeit wird nach außen gekehrt“ (Carolin Emcke, Gegen den Hass, S.15).
Und was ist mit den christlichen Gemeinden? Da gibt es leider viel Sündenfahndung und Richtgeist.
Unser Predigttext ist wie gemacht für unsere Zeit. Sie braucht nichts dringender als das, wozu Jesus seine Jünger verpflichtet: Seid barmherzig, indem ihr nicht richtet und nicht verurteilt, sondern vergebt und gebt!
B.
I.
Der Auftrag Jesu für seine Jünger, für seine Kirche, für uns
1.
Wir sind wie die Jünger damals Lernende. Wir sind Lehrlinge der Barmherzigkeit. Eine Gemeinde ist wie eine Schulklasse. Wir lernen gemeinsam.
Das Thema unseres Textes im engen Sinn heißt: Wie gehen wir mit Menschen um, die an uns schuldig werden, die uns verletzen, die uns Unrecht tun?
Das Thema im weiteren Sinne lautet: Wie gehen wir mit Menschen um, die in unseren Augen falsch denken und verkehrt leben? Wie gehen wir mit Menschen um, die nach unserem Urteil falsch an Gott glauben oder nicht richtig an die Bibel glauben?
Jesus gibt das Lernziel vor: Seid barmherzig, indem ihr nicht richtet und nicht verurteilt, sondern vergebt und gebt! Das sind zwei Verbote der Barmherzigkeit und zwei Gebote der Barmherzigkeit.
2.
Die zwei Verbote der Barmherzigkeit
a.
Richtet nicht! In der Bibel ist das Gericht der Ort, wo das endgültige Urteil über ein Menschenleben verkündet wird. Jesus sagt uns hier: Maßt euch nicht an, euch zum Richter über andere Menschen aufzuspielen! Nehmt nie das Richten Gottes vorweg!
Richten – das kann nur Gott, das darf nur Gott! Er wird richten! Er allein wird über ein Menschenleben entscheiden! Er kann jeden Gedanken, jedes Wort, jede Handlung deuten, einordnen, fair und gerecht beurteilen. Gott kann die Frage nach Gut und Böse definitiv beantworten. Deshalb sagt Jesus: All das könnt ihr nicht! Deshalb: Richtet nicht! Das steht euch nicht zu! Fällt keine letzten, keine letztinstanzlichen Urteile über andere Menschen! Auch nicht über Euch selbst!
b.
Verurteilt nicht! Vollstreckt eure eigenen Verurteilungen nicht! Ich zähle einige der ewig alten und ewig jungen Vollstreckungsmaßnahmen auf:
(1) Wir verweigern die Vergebung. Wir bestehen auf Vergeltung und Strafe.
(2) Wir missbrauchen unsere berechtigte oder unberechtigte Kritik am anderen dazu, um über ihn schlecht zu reden und zu lästern.
(3) Wir stempeln jemanden ab und stecken ihn in Schubladen-Gefängnisse.
(4) Wir brechen über jemanden den Stab und geben ihm keine Chance mehr.
(5) Wir beschimpfen und beleidigen andere. Die neuen Medien erleichtern das.
(6) Wir kündigen anderen Zuneigung und Freundschaft, brechen den Kontakt ab und beenden die Beziehung.
3.
An dieser Stelle schiebe ich eine Frage ein: Was haben wir davon, wenn wir andere richten und verurteilen? Welchen Gewinn ziehen wir daraus?
Wir tun das, weil wir uns dann nicht mit unserer Schuld auseinandersetzen müssen. Weil wir dadurch vor uns selbst fliehen können.
Wir tun das, weil wir uns dann entpflichten können! Wir müssen dann nicht, so unser Kalkül, barmherzig sein. Wir müssen nicht vergeben und geben!
4.
Die zwei Gebote der Barmherzigkeit
a.
Vergebt! Verzeiht dem, der an euch schuldig wurde, von Herzen. Verzichtet auf Rache und auf Wiedergutmachung. Legt seine Schuld in die Hände Gottes (siehe 1 Ptr 2,23). Gott wird sich darum kümmern.
An dieser Stelle eine Fußnote: Ich sagte gerade: Man sieht unser Richten und Verurteilen anderer z.B. daran, dass wir Beziehungen beenden. Wir müssen da unterscheiden. Jesus ruft uns zur Vergebung auf. Aber Vergebung bedeutet nicht, auf nötige Grenzen zu verzichten, die verhindern, dass jemand weiter an mir schuldig wird. Vergebung bedeutet nicht, das Unrecht des anderen ständig weiter zu erdulden und zuzulassen. Opfer schwer Schuld dürfen und müssen manchmal Beziehungen beenden, Missbrauchs- und Gewaltopfer sowieso immer!
b.
Gebt! Seid barmherzig, indem ihr dem anderen schenkt, was er in seiner Not braucht.
5.
Jesus sagt: So werdet ihr auch nicht gerichtet und verurteilt werden! So wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
Die Art und Weise, wie wir andere beurteilen und behandeln, zählt vor Gott.
Der Maßstab, den wir anwenden, den wird Gott einmal bei uns anwenden. Wenn wir andere mit dem Maßstab der Unbarmherzigkeit messen, wird Gott uns nach unserer Unbarmherzigkeit messen. Er wird unsere Härte mit Härte beantworten, unseren Zwang mit Zwang, unsere Strenge mit Strenge, unsere Perfektion mit Perfektion.
Wenn wir andere nach dem Maßstab der Barmherzigkeit behandeln, wird Gott uns mit Barmherzigkeit überschütten und beschenken. Es ist ein „Bild aus der damaligen Handelspraxis: Händler füllen Getreide in einen Messbecher, drücken es fest und schütteln den Becher. Der Platz, der entsteht, wird mit Getreide aufgefüllt. Erst dann ist der Becher wirklich voll.“ (Erklärung der Basisbibel zur Stelle).
II.
Drei Anfragen an das Nichtrichten (oder die Kunst der Unterscheidung)
1.
Anfrage 1: Heißt das, dass ich mir kein eigenes Urteil bilden und die eigene Meinung nicht sagen darf? Heißt das, dass ich nichts und niemanden kritisieren darf?
Die Antwort lautet Nein! Wir müssen unterscheiden.
Das griechische Wort für „richten“ heißt „krinein“. Unser Wort Kritik stammt davon ab. Dieses Wort hat ein großes Bedeutungsspektrum. Es hat drei Ebenen:
- Es kann „prüfen“ und „unterscheiden“, „beurteilen“ und „urteilen“ heißen.
- Es kann „scheiden“ und „trennen“ bedeuten.
- Und es kann „richten“ heißen.
Wenn Jesus uns aufruft, nicht zu richten, verbietet er uns nicht unsere eigene Meinung, er verbietet uns nicht differenziertes und kritisches Denken.
Ich sage deshalb z.B.:
Sextourismus in Thailand ist Unrecht.
Dass H&M besonders Mütter und Langzeitkranke entlassen will, ist Unrecht.
Teile der Corona-Leugner sind Antisemiten.
Ich halte das ungehemmte Hassen in den Medien für eine nicht-akzeptable Unart.
Und doch sollten wir gewarnt sein! Ein einziges Wort im Griechischen für Bewerten und Beurteilen, für Trennen und für Richten. Wie leicht wird aus einem Urteilen ein Verurteilen! Wie leicht wird aus einem Unterscheiden ein Scheiden und Trennen. Mit anderen Worten: Kritik zu üben, ohne zu richten, das ist eine Kunst! Kritik zu üben, ohne schuldig zu werden, das ist schwer.
2.
Zweite Anfrage: Für wen gilt denn diese Anweisung Jesu? Menschliches Richten ist doch eine Notwendigkeit! Wir brauchen doch Gerichte!
Diese Anweisung, nicht zu richten, gilt für die Jünger. Sie gilt also für die Kirche. Sie gilt für uns als Gemeinde. Und darüber hinaus gilt sie für jeden Menschen in seinem privaten und persönlichen Bereich, wenn er sie von Jesus als für sich verpflichtend und verbindlich übernehmen und leben will.
Aber es ist in der Bibel völlig klar. Eine Gesellschaft ohne Gesetzgebung, Polizei und Justiz würde in Rechtlosigkeit und Anarchie versinken. Es braucht den Staat, die Polizei, die Justiz. Wenn der Staat nicht für Recht und Gerechtigkeit sorgen würde, wären die Folgen katastrophal: Übeltäter könnten, wenn ihnen nicht Einhalt geboten würde, ungestraft fortfahren. Unrecht und Böses würden ausarten. Täter würden über Opfer triumphieren. Opfern würde ein zweites Mal schweres Unrecht widerfahren.
Ich deute zwei Probleme an:
Alles menschliche Richten ist ein Notbehelf und eine zutiefst ambivalente Angelegenheit.
Innerhalb des Rechts muss es Spielräume für die Barmherzigkeit geben. Z.B. im Flüchtlingsrecht.
3.
Dritte Anfrage: „Aber Gott ist doch nicht nur barmherzig. Er ist doch auch zornig“.
Das höre ich ab und zu. Wir Christen müssten mehr vom Zorn Gottes reden. Heute sei alles so weichgespült! Ich antworte: Ja, wir müssen auch vom Zorn Gottes reden. Unbedingt. Die Frage ist nur, was wir unter Zorn Gottes verstehen und wie wir davon reden. Wir sollten ein Gespür dafür haben, wie schwierig und missverständlich das nötige Reden vom Zorn ist.
Die Sache mit dem Zorn Gottes ist sehr komplex. Ein Punkt in einer Predigt kann dem Thema nicht gerecht werden. Ich stelle deshalb einen Grundansatz vor, den ich nach meiner Lesart in der Bibel finde. Mir hilft er. Vielleicht hilft er Euch auch!
Ich habe diesen Grundansatz aus der Zusammenschau von Bibelstellen gewonnen: Es heißt in 1 Joh 4,16: „Gott ist die Liebe“; in Esra 3,8: „Seine Barmherzigkeit währt ewig“; in 2 Mose 34,6 heißt es: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn, von großer Gnade und Treue“; in Jes 54,8: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade, will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser“; und in Rö 1,18: „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen.“
Mein Grundansatz lautet nun: Die Liebe Gottes ist jedem Menschen gegenüber unverdient barmherzig. Sie schließt keinen Menschen aus. Aber die Liebe Gottes schließt alles aus, was mit der Liebe unvereinbar ist. Böses und Unrecht werden von Gott auf Dauer nicht toleriert. Schon wegen der Opfer nicht! Der Zorn Gottes ist Opferschutz. Und der Zorn Gottes schützt alles, wovon eine Gesellschaft lebt: Gerechtigkeit und Recht, Wahrheit und Treue, Barmherzigkeit und Güte… Mit dem Zorn Gottes konfrontiert zu werden, tut weh, bedeutet Leiden für uns. Aber es schaut so aus, dass wir das nötig haben.
III.
Das Nichtrichten Jesu. Oder: Der Umgang Jesu mit schuldigen Menschen
1.
Wie ging Jesus mit schuldigen Menschen um?
Ich hole kurz aus. Barmherzigkeit, das sehen wir an Gott im Alten Testament und das sehen wir in den Evangelien an Jesus, heißt: Gott lässt sich berühren von der Not seiner Menschenkinder. Er lässt ihre Nöte an sich heran. Er lässt sich bewegen, ihnen zu helfen. Er fragt dabei nie, ob ein Mensch es verdient hat oder nicht. Genau diese Einstellung und dieses Verhalten hat Jesus auch schuldigen Menschen gegenüber gelebt.
a.
Jesus hat nicht unbarmherzig den Leuten auf die Finger geschaut. Er war kein Sündenfahnder, der mit Freude und Genugtuung bei anderen etwas findet, um sie abzustempeln, um sich von ihnen zu distanzieren, um ihnen die Beziehung kündigen zu können. Er hat die Menschen nicht gerichtet oder verurteilt.
b.
Jesus begegnet den Menschen mit Zuneigung, Mitgefühl und liebendem Erbarmen, aber auch mit Klarheit und Deutlichkeit. Er kann ungeduldig gegenüber dem Unglauben seiner Jünger sein. Er war unerbittlich gegenüber Selbstbetrug und Doppelmoral der Frommen. Er war kompromisslos gegen Machtmissbrauch und Narzissmus der Herrschenden. Jesus schwieg nicht in einer zu weichen Barmherzigkeit zum Bösen. Er warf nicht über alles den Mantel seiner unendlichen Barmherzigkeit, erst recht nicht über Unbarmherzigkeit und Unversöhnlichkeit.
c.
Jesus sah mit offenen Augen die Dinge in einer guten und echten Barmherzigkeit. Er deckte auf, ohne andere zu verurteilen oder auszuschließen. Er ließ sich die Not des Sünders zu Herzen gehen. Er wusste, dass das Böse identifiziert und benannt werden muss, um es behandeln zu können. Jesus sah nie nur den Dreck, er sah die Wunde, die darunter verborgen liegt. Er sah den Menschen, der Erlösung braucht: Erlösung von seinem Bösen.
2.
Wie ging Jesus mit Menschen um, die an ihm schuldig wurden?
Seine Gegner stempelten ihn ab als liberal und nicht bibeltreu. Man bekämpfte ihn, weil man ihn für schädlich hielt. Man sprach ihm die Existenzberechtigung ab. Man fügte ihm unfassbares Leid zu: Eliminierungsbeschluss. Gefangennahme. Politischer Unrechtsprozess. Folter. Todesurteil. Hinrichtung auf brutalst mögliche Art und Weise.
Wie verhielt Jesus sich darin? Wir sehen, dass Jesus inmitten und trotz dieses Unrechts, inmitten und trotz dieser Erbarmungslosigkeit, inmitten und trotz dieses Hasses sich treu bleibt und seine Werte nicht verrät. Er hält an Gewaltverzicht und Feindesliebe fest. Er vergibt und bittet um Vergebung für Menschen, die nicht an ihn glauben, die ihm Unrecht tun, die an ihm schuldig werden, die ihn loshaben wollen, die ihm die Existenzberechtigung absprechen.
3.
Jetzt kommen wir ins Spiel. Jetzt kommt unser Christsein ins Spiel.
Christsein ist Glauben. Wir dürfen diese Barmherzigkeit Gottes, diese Barmherzigkeit Jesu glauben. All das, was ich gerade versucht habe zu beschreiben, gilt Dir, gilt uns, gilt mir. Christsein heißt: Ich glaube, dass Gott genauso mit uns allen umgeht, wie Jesus es vorgelebt hat. Mit Zuneigung, Mitgefühl und Erbarmen. Mit Klarheit und Deutlichkeit. Mit Vergebung und Versöhnung.
Christsein ist ein lebenslanger Veränderungsprozess. Wer diese Barmherzigkeit an sich erfahren hat, der kann nicht mehr richtig gut unbarmherzig sein mit anderen. Dessen Unbarmherzigkeit bekommt Risse. Jesus fängt also einen Prozess der Veränderung an.
Christsein ist ein Leben mit Jesus als unserem Lehrer und unserem Vorbild. Wir sind Lernende. Wir sind Lehrlinge, Lehrlinge der Barmherzigkeit. Natürlich: Wir lernen nie aus. Wir werden versagen. Aber wir können das auch umdrehen: Was für eine Würde, die Jesus uns gibt. Er traut uns zu, dass wir in Sachen Barmherzigkeit etwas lernen werden. Er traut uns zu, dass seine Art, barmherzig zu sein, auf uns abfärbt. Er traut es Dir zu!