Schätze der Bibel, die uns Orientierung und Hoffnung geben, die uns aber auch herausfordern – Krisenliteratur III – Von Thomas Pichel

I.
Krisen decken etwas auf und stellen Fragen

1.
Was sind meine Denkmuster? Was sind meine Handlungsmuster?

2.
Sie stellen Fragen. Z.B. die Frage: Wie denkt Gott? Was denkt Gott sich dabei?

Da könnte man natürlich jetzt dicke Bücher schreiben. Und es gibt sie ja auch, die 1000 Bücher. Ich will uns eine Bibelstelle vorstellen, von der ich den starken Eindruck habe, das Gott sie mir schon einige Male in mein Leben hineingesprochen hat, sozusagen als Krisenliteratur für mich. Dieses Wort ist aus dem größten Buch der Bibel, aus dem Jeremia-Buch, das mit seinen 52 Kapiteln mehr Wörter besitzt als die 150 Psalmen oder mehr als alle anderen Bücher des Alten oder neuen Testaments.

Jeremia wirkt in den Jahren 620 bis 580, also 40 Jahre. Es ist eine schwierige und herausfordernde Zeit. Es ist eine Zeit der großen Veränderungen. Die alte Weltmacht Nr. 1, die Assyrer, wird abgelöst von der neuen Weltmacht, den Babyloniern. Israel ist Schauplatz von Kriegen. Weil die Führung in Jerusalem sich von den Babyloniern befreien will. So kommt es 595 zu einer ersten großen Deportation von Juden nach Babylonien und 586 zur Zerstörung der Stadt und des Tempels. Und der Prophet Jeremia mittendrin, der unter Druck gerät, weil er der Staatsführung nicht passt, weil andere Propheten ihm eine falsche Theologie und einen falschen Glauben vorwerfen.

Jer 12,1-5: 1 HERR, wenn ich auch mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden. Warum geht’s doch den Gottlosen so gut, und warum können die Abtrünnigen sorglos sein? 2 Du pflanzt sie ein, sie schlagen Wurzeln und wachsen und bringen Frucht. Nahe bist du ihrem Munde, aber ferne von ihrem Herzen. 3 Mich aber, HERR, kennst du und siehst mich und hast mein Herz erprobt, ob es bei dir ist. Reiß sie weg wie Schafe zum Schlachten, und sondere sie aus, dass sie getötet werden! 4 Wie lange soll das Land vertrocknen und das Grün auf allen Feldern verdorren? Wegen der Bosheit der Bewohner schwinden Vieh und Vögel dahin; denn sie sagen: Er sieht unsere Zukunft nicht.

Jeremia macht eine Erfahrung und sagt sie Gott ins Gesicht. Es ist eine Erfahrung, die wir alle kennen. Es gibt keinen festen direkten Zusammenhang zwischen der Moral eines Menschen und seinem konkreten Ergehen. Oft geht es denen besonders gut oder haben gerade diejenigen Erfolg, die es in unseren Augen auf keinen Fall verdient haben. Das findet Jeremia nicht gut.

Er geht sogar noch weiter. Wegen der Verbrechen dieser Menschen geht es dem ganzen Land nicht gut. Aber ausgerechnet den Verursachern des Bösen. Jeremia empfindet das als große Ungerechtigkeit. Er scheut sich nicht, Gott dafür verantwortlich zu machen. Er sagt etwas Unglaubliches zu Gott: Du bist nahe ihrem Mund, aber ferne ihrem Innern. Du hörst sie reden. Aber du durchschaust sie nicht. Du fällst auf sie rein. Jeremia beschwert sich bei Gott. Dass es den Menschen, die nicht an ihn glauben, die machen, was sie wollen, so gut geht. Und dass es den gläubigen Menschen schlecht geht, dass es den Frommen gerade deshalb so schlecht geht, weil es diese gewissenlosen und unverantwortlichen Menschen gibt. Das sagt ein Prophet zu Gott. Und die Juden fanden das eine gute Idee, dass das in der Bibel steht.

Nun zu der Bibelstelle, die mir Orientierung gibt, auch wenn sie hart ist, auch wenn sie mich herausfordert. Sie hat auf lange Sicht mir sehr geholfen. Wie antwortet Gott dem Jeremia?

Wir lesen in Jer 12,5: Wenn schon der Wettlauf mit Fußgängern dich ermüdet, wie willst du dann mit Pferden um die Wette laufen? Wenn du dich nur im friedlichen Land sicher fühlst, wie wirst du dich verhalten im Dickicht des Jordan?

Was für eine Antwort! Keine Kritik an Jeremia! Kein Trost! Keine Stärkung! Auch keine Erklärung! Dagegen sagt Gott: Stell dich nicht so an! Eigentlich müsstest du noch viel mehr aushalten können. Und du wirst es auch müssen. Das Schlimmste steht dir noch bevor. Reiß dich zusammen! Wir sehen hier einen Gott, der mit seinem auserwählten Werkzeug harsch umgehen kann.

Wie gesagt: Die Juden fanden das eine gute Idee, das in die Bibel aufzunehmen. Sie fanden die Erkenntnis wichtig, die in dem versteckt liegt, was Gott zu seinem Propheten sagt: Ein Berufener darf nicht erwarten, dass er ein bequemes Leben führt. Den menschlichen Werkzeugen Gottes wird immer wieder Unverständnis, Hass und Gewalt entgegenschlagen. Wen Gott beruft, der muss bereit sein, dafür zu leiden. Der kann nichts anderes erwarten. Vor allem auch keine schnellen Erfolge. Das ist für die Wirkungsgeschichte des Jeremiabuches besonders bedeutsam geworden. Denn auf diese Weise ist es später Menschen leichter geworden, das Leiden Jesu zu verstehen. (nach Hans-Joseph Sipp)

 

II.
Worte der Bibel

Jer 15,16: Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt, HERR, Gott Zebaoth.
Überlege jeder einmal kurz für sich, welche Bibelworte uns ernähren, uns Kraft und Halten geben, in unseren Krisenzeiten. Dazu mehr in der nächsten Predigt am 15.10.!


III.
Unser Beten

1.
Es gibt in der Bibel das Recht der Gebetsklage. Wir haben eine (Jer 12) gehört. Ich möchte ein zweites Beispiel vorlegen. Es sind Auszüge aus Psalm 13.

Herr, wie lange willst mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? Schaue doch und erhöre mich, Herr, mein Gott?

2.
Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat!“ (Mt 24,20)

Wie ist der Zusammenhang? Jesus spricht von den „Wehen der Endzeit“. Es kommt während der Zeit zwischen seinem ersten und zweiten Kommen zu Wehen, das heißt zu typischen, schmerzhaften, sich wiederholenden und sich steigernden Ereignissen. Jesus meint Katastrophen, Kriege, Epidemien, Hunger… Jesus sagt auch voraus, dass Menschen immer wieder vertrieben werden und flüchten müssen. Wir wissen heute, wie recht Jesus hat!

Mt 24,20 ist ein erstaunliches Wort der Hoffnung. Wenn es eine Krisenzeit gibt, wenn wir im Überlebensmodus sind, dann müssen wir uns vor einem Schicksalsglauben hüten, dessen Logik so aussieht: Es steht alles fest. Es ist alles von Gott festgelegt. Man kann jetzt nichts mehr machen. Es kommt, wie es kommt. Beten braucht man nicht mehr! Nein, sagt uns Jesus in Mt 24,20, das ist es nicht. Wir dürfen um gute Umstände bitten. Wir dürfen um hilfreiche Situationen bitten. Wir dürfen um kleine Wunder bitten. Wir dürfen um große Wunder bitten. Auch wenn die Gesamtlage schwierig bleibt. Auch wenn man viel durchzustehen hat.

3.
Noch ein dritter Gedanke zum Gebet. Ich glaube, dass es in Krisenzeiten entscheidend darauf ankommt, dass wir nie vergessen, wer unser Gesprächspartner ist, zu wem wir beten.

In den Zeiten, die uns an die Grenze des Leids bringen, gibt es einen richtigen Gesprächspartner. Es ist Jesus am Kreuz, der am Kreuz betet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34). Unser richtiger Gesprächspartner ist immer, aber erst recht in Krisenzeiten der leidende und sterbende Jesus, der furchtbare körperliche Schmerzen und furchtbare seelische Schmerzen aushalten muss.

 

IV.
Die Gemeinschaft mit anderen

Es gibt im Alten und Neuen Testament die Aufforderung, dass wir uns als Einzelne einer Gruppe anschließen sollen.

In 5 Mo 29,9 sehen wir das. Es werden bewusst alle aufgezählt. „Ihr alle steht heute vor dem Herrn, eurem Gott, die Anführer eurer Stämme, eure Ältesten und eure Offiziere, alle Männer Israels, eure jungen Kinder, eure Frauen und eure Bekehrten (…), damit ihr in den Bund des Ewigen eintretet“

In 1 Kor 12,12-26 lesen wir: Wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat… Kein Glied kann sagen: Ich brauche die anderen Glieder nicht. Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.

Zum Leben mit Gott brauchen wir die ganze Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist stärker als der Einzelne. Die Gemeinschaft trägt den Einzelnen. Sie gibt ihm Wärme und Kraft. Sie wirkt gegen die Isolation und Einsamkeit.

Es gibt eine Geschichte aus dem Judentum, die in unzähligen christlichen Predigten zu Recht erzählt wird: Ein Mann war Teil einer Gemeinde und besuchte viele Jahre lang den wöchentlichen Sabbat-Gottesdienst. „Aber dann kam er einfach nicht mehr. Der Rabbiner erkundigte sich nach dem Grund dafür, aber alles, was er hörte, war, dass es Jack gut ging, dass er sich wohlfühlte, aber dass er einfach nicht mehr kam.Der Rabbi macht sich auf den Weg, um Jack einen Besuch abzustatten. Er kommt in das Haus des Mannes. Es ist Winter, der Mann sitzt gemütlich vor dem Kamin und liest ein Buch. Der Rabbi setzt sich neben ihn und sagt kein Wort; sie sitzen beide im Schein des warmen Feuers. Dann nimmt der Rabbi die Feuerzange, zieht eine glühende Kohle aus den Flammen und legt sie behutsam in einer abgelegenen Ecke des Kamins ab. Während der Rest des Feuers weiter loderte und knisterte, wurde das einzelne Stück Kohle von Minute zu Minute blasser, bis es schließlich von selbst erlosch. Ohne ein Wort zu sagen, stand der Rabbiner auf, nickte seinem Gemeindemitglied zu, wünschte »Gute Nacht« und ging nach Hause. Am nächsten Schabbat kehrte der Mann in die Synagoge zurück. Eine Kohle, die vom kollektiven Feuer isoliert ist, stirbt. Jack hatte die Botschaft verstanden.“ (Von der homepage der Jüdischen Allgemeine, aufgerufen am 27.9.2029).

 

V.
Die Perspektive, der Horizont oder: Worauf wir hoffen dürfen!

1.
Rö 8,18-25

18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

2.
Offb 21,1-5

1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk (seine Völker!) sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!