Faszination Jesus – (Jesus V) – Von Thomas Pichel

I.
Spurensuche nach dem bedeutendsten Menschen aller Zeiten

Stellen wir uns vor: Wir alle müssten einen Aufsatz über Jesus schreiben. Der Aufsatz hat das Thema: Spurensuche nach dem bedeutendsten Menschen aller Zeiten. Die Aufgabenstellung lautet: Portraitiere Jesus von Nazareth. Die eigene Faszination darf deutlich werden! Was würdest du/Sie schreiben?

Ich denke, wir müssten etwas sagen:

über sein Judesein, über seine Verwurzelung in der Hebräischen Bibel,

über seinen Glauben an Gott, über seine Beziehung zu Gott,

über seine Begabung als Geschichtenerzähler, über seine Reden und Predigten,

über sein großes Thema, über sein Lebensprojekt: das Reich Gottes,

über sein Dienen, seine Selbstlosigkeit, seine Liebe, seine gelebte Vergebung und Gnade,

über seine Gewaltlosigkeit, über seinen Verzicht auf jede politische Macht,

natürlich über sein Leiden und Sterben, natürlich über seine Auferstehung,

über seine Wunder, seine Heilungen, über seine Zeichenhandlungen,

über seine Funktionen, die ihm das Neue Testament auf Grundlage des Alten Testaments gibt, also über Jesus als Propheten, Priester und König,

über seine geheimnisvollen Titel, die ihm das Neue Testament auf Grundlage des Alten Testaments gibt, also über Jesus den Messias, den Menschensohn, den Sohn Gottes,

über sein Geheimnis, ganz Mensch und ganz Gott zu sein.

 

II.
Meine Faszination für Jesus

Ich bin seit 40 Jahren Christ. Von Anfang an hat mich der Mensch Jesus von Nazareth interessiert und fasziniert. Aus dieser Faszination will ich drei Punkte herausgreifen, die mich immer wieder ins Staunen bringen, die mir sehr viel bedeuten, die mir immer wieder ein neues Lied schenken.

 

1.
Das Vertrauen Jesu zu seinem himmlischen Vater

Jesus ruht in einem Urvertrauen gegenüber Gott. Er lebt ein Urvertrauen gegenüber seinem Vater. Dieses Vertrauen trägt ihn, hält ihn, schützt ihn.

Das ist wie eine Urerfahrung! Das ist wie eine Grundmelodie bei ihm. Die Stichworte heißen Nähe, Geborgenheit, Verstandenwissen, Trost und Zuversicht.

Das fasziniert mich. Diesen Glauben möchte ich haben, möchte ich leben.

Es gilt aber auch: An diesen Vater im Himmel darf ich glauben, mit diesem Vater im Himmel darf ich leben! Mit diesem Vater darf ich unterwegs sein!

 

Exkurs: Der bibelkundliche Befund

Gott wird in der jüdischen Bibel über 6800x Jahwe genannt, über 450x Adonai, das heißt übersetzt „Herr“. Er wird über 250x Herr Zebaoth genannt. Er wird ein paar Mal König oder Heiliger genannt.

Es ist zum Staunen: Gott wird aber nur, je nach Zählweise, 15 bis 17x Vater genannt. Z.B. einmal in 5 Mose 32,6. Zweimal in den Psalmen. Z.B. in Ps 103,13 in einem Vergleich! Häufiger bei den Propheten.

Es ist zum Staunen. Gott wird, wenn ich mich nicht irre, nur einmal im Alten Testament als Vater angesprochen. In Jes 63,15 steht: Bist ja doch unser Vater!

Es ist zum Staunen. Mit Jesus ändert sich das vollkommen! Es gibt eine Explosion der Anrede Gottes als Vater bei Jesus. Jesus redet in den Evangelien ca. 170x als Vater an. Ein einziges Mal tut Jesus es nicht, als er in seinem Todesleiden Psalm 22 zitiert. Da betet er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Es ist zum Staunen. Jesus sagt nicht pater, Vater, er sagt abba, also Papa. Er verwendet in seiner Gebetsanrede für Gott die Lall-Form eines kleinen Kindes. Abba ist das intimste Wort der Kleinkindersprache. Es ist die Zärtlichkeitsform von Vater.

Ich weiß nicht, ob wir das überhaupt begreifen können. Der allmächtige Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde ist unser Vater, ist unser Papa.

 

2.
Die Freiheit Jesu

Er erfüllt die Erwartungen von Menschen nicht. Er ist nie käuflich. Er hat Zeit für Kinder. Er spricht mit Frauen in der Öffentlichkeit. Er geht auf Menschen zu, die andere meiden. Er spricht mit Menschen, die andere nicht ernst nehmen. Er hat keine Angst um seinen Ruf (er lässt sich z.B. von käuflichen Frauen anfassen!) Er isst mit Zöllnern, die damals verachtet und verhasst waren.

Ich habe, wenn ich die Geschichten von Jesus lese, immer wieder den Eindruck: Der hat Mut. Der traut sich etwas. Der hat Rückgrat. Der lässt sich nicht verbiegen. Der ist nicht käuflich. Der ist unglaublich frei. Frei von Menschenfurcht z.B. Frei von Vorurteilen z.B.

Was macht ihn so frei? Was ist da los? Was ist sein Geheimnis?

„Jesus lebt aus einer ganz tiefen Bindung! Er lebt aus seiner tiefen Bindung an Gott. So sehr, dass er diesen Gott seinen Vater nennt, seinen Papa, seinen abba.

Und in dieser Beziehung ist er frei von dem, was andere über ihn sagen, was andere über ihn denken, was andere einfordern. Er ist frei, dem zu folgen, was er für richtig hält: der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der Feindesliebe.

Er ist frei von Vorurteilen gegenüber Fremden, über Aussätzige, über Kranke, über Verachtete. Er macht sich frei von diesen Vorurteilen. Weil er in einer Bindung steht, in einer Beziehung, so radikal zum Zentrum seines Lebens macht, dass er zu allem anderen sagen kann: Hör ich mir an! Schau ich mir an! Aber es bestimmt mich nicht. Mich bestimmt allein mein Vater im Himmel. Und seine Liebe und sein Erbarmen machen mich frei.“ (Thorsten Dietz, GospelHaus Stuttgart, Predigt am 18.10.2021, aufgerufen über youtube am 11.5.2022)

Diese Freiheit fasziniert mich. Diese Freiheit lässt mich immer wieder das neue Lied singen. Von dieser Freiheit möchte ich etwas haben. Diese Freiheit möchte ich leben.

 

3.
Die Menschlichkeit Jesu, die Gefühle Jesu.

Ich möchte das mit einem Ausschnitt aus einer Heilungsgeschichte beleuchten. Es ist die Heilung eines Aussätzigen. Die Geschichte steht in Mk 1,40-45. Ich beschränke mich auf die Verse Mk 1,40-42: Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein! Und sogleich wich der Aussatz von ihm und er wurde rein.

Ich bin fasziniert von dem emotionalen Ausdruck „es jammerte ihn“. Wir können heute verständlicher übersetzen: Er wurde von großem Mitleid erfüllt. Wir können genauer übersetzen: Es drehte ihm das Herz um. Es ging ihm durchs Herz. Wir können wortwörtlich übersetzen: Es dreht ihm die Eingeweide um. Der Hebräer sieht den Sitz für unsere Gefühle im Bauch.

Ich staune immer wieder: Das Erbarmen Jesu reicht bis tief in sein Innerstes hinein. Jesus seufzt als ein Mitfühlender, als ein empathischer Mensch, dem die Not eines anderen sehr nahe geht.

Ich staune aber auch über eine Textvariante von Mk 1,41. Es gibt ein paar Handschriften von Mk 1,40-45, in denen nicht steht: Es jammerte ihn, sondern: Er wurde zornig.

Diese Textvariante (ich halte sie für ein Geschenk Gottes!) verrät uns etwas sehr Wichtiges über Jesus, über seine Menschlichkeit, über seine Liebe zu Menschen.

Zorn ist die Eigenschaft eines liebenden und leidenschaftlichen Herzens, das nicht alles erträgt und hinnimmt. Jesus hatte so ein liebendes und leidenschaftliches Herz, das nicht alles erträgt und hinnimmt, sondern unwillig und ungehalten reagiert, wenn z.B. die Jünger Frauen wegdrängen wollen, die mit ihren Kindern zu Jesus kommen wollen.

Jesus reagierte nicht gedankenlos, nicht gleichmütig, nicht apathisch (Luther sagt: Gott hasst die Apathie!), sondern sehr emotional, wo er das Leben von Menschen bedroht sah. Und hier reagierte er zornig, nicht über den Aussätzigen, sondern über den Aussatz. Sein Zorn ist eine „Aggression gegen die Macht des Verderbens, der Krankheit, der Stummheit, der Verschlossenheit gegen das, was Gottes ursprünglichen Schöpferwillen widerspricht, gegen das Dämonische und Teuflische, und Verkehrte“ (Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, S.103)

Zorn ist ein Echtheitszeichen echter Liebe! Wer einen Menschen wirklich liebt, der ist zornig auf alles, was einen Menschen verletzt und schadet, auch auf das, womit ein Mensch sich selbst schadet. Aber das ist hier nicht das Thema. Aussatz ist keine Sünde!, und der handelt aus diesem positiven Zorn (kein unmenschlicher, egoistischer, selbstsüchtiger Zorn!)

Mich fasziniert diese Menschlichkeit, diese Emotionalität! Mich fasziniert, dass ich diese Gefühle, diese Einstellung für mich glauben darf! Deshalb singe ich immer wieder das neue Lied über Jesus, weil ich immer wieder Neues entdecke oder Altbekanntes neu erfahre!

 

III.
Jesus ist unser Vorbild, aber gottseidank nicht nur unser Vorbild, sondern unser Erlöser!

Christwerden, Christsein heißt immer auch, völlig zurecht, Maß an Jesus zu nehmen. Aber jeder, der das ernsthaft versucht, merkt: Ich bin nicht so wie er! Ich bin z.B. nicht so stark im Vertrauen zu Gott wie Jesus. Ich bin nicht so frei wie Jesus. Ich habe nicht diese Menschlichkeit, diese Liebe wie Jesus.

Aber Christwerden und Christsein lebt vom neuen Lied! Und das neue Lied heißt: ‚Jesus ist nicht unser Klassenprimus. Er ist nicht unser Bester‘ (Thorsten Dietz). Christsein ist nicht der Versuch, Jesus einzuholen. Christsein ist die Erfahrung, dass „Christus in mir lebt“ (Gal 1,20). Der Geist Jesu, der Heilige Geist verwandelt uns…

C.S. Lewis sagt das einmal so: „Ich habe Christus das ‚erste Beispiel‘ des neuen Menschen genannt. Aber natürlich ist er viel mehr als das. Er ist nicht nur ein neuer Mensch, ein Exemplar dieser Gattung, sondern er ist der neue Mensch. Er ist Anfang, Mitte und Leben aller neuen Menschen. Aus eigenem Willen kam er in das erschaffene Universum, in das er uns… das neue Leben trägt… Und er gibt dieses neue Leben nicht durch Vererbung weiter, sondern durch das, was ich die „Ansteckung durch das Gute“ nannte. Jeder wird durch persönlichen Kontakt mit ihm ‚infiziert‘”. (C.S. Lewis, in: Pardon, ich bin Christ!, S.193).

 

IV.
Die Faszination über Jesus ist die Faszination über die Gnade

Im Gottesdienst wird dieser Punkt vor dem Abendmahl gepredigt.

Wir dürfen eine Gemeinde mit einem starken Warum sein. Wir dürfen eine von Gott begeisterte und darum fröhliche und getroste Gemeinde sein. Wir dürfen eine Gemeinde sein, die immer wieder das neue Lied der Gnade singt.

Wir singen und erzählen nicht die Geschichte eines edlen und hilfreichen Menschen. Wir singen und erzählen die Geschichte der Gnade und der Verwandlung.

Es gibt einen Ort, bei dem wir nicht in unseren Leistungen aufgehen und nicht durch unser Versagen und Zurückbleiben bestimmt werden. Es gibt eine Überzeugung, die uns zu Herzen geht: Wir liegen vor Gott wie ein offenes Buch mit allem Guten, Mittelmäßigen und Abgründigen. Es gibt eine Überzeugung, die uns froh macht: Mit allem, was wir sind, wird einer fertig, ohne uns fertig zu machen. Da hält einer an uns fest, spricht uns frei, nimmt uns an, gibt uns nie wieder auf und verändert uns… – in geduldiger Zuwendung und nimmermüder Gnade, bis er unser Leben vollendet, das nicht einfach abbricht, sondern zu seinem Ziel findet und heimgebracht wird.‘ (Gedanken von bzw. nach Michael Herbst, in: Zukunft der Kirche, Zukunft ohne Kirche, theologische beiträge, 2/2022, S.76).