Philipper 2,6-11 – Was für ein Mensch, was für ein Gott! – (Über Jesus I) – Von Thomas Pichel

A.
Einleitung: Was ist das Besondere am christlichen Glauben?

1.
Das Besondere am christlichen Glauben ist nicht ein Buch, nicht eine Lehre, nicht gewisse Regeln oder Vorschriften, nicht gewisse Traditionen und Werte, nicht gewisse Rituale und Riten. So wichtige diese Dinge im Einzelnen auch sind!

Das Besondere am christlichen Glauben ist eine Person bzw. die Beziehung zu einer Person. Das Besondere ist Jesus Christus, ist die Beziehung zu Jesus von Nazareth. Und es ist die Behauptung, dass wir Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort diese Person aus der Geschichte als lebendig und gegenwärtig erfahren können.

Juden glauben nicht an Mose. Muslime glauben nicht an Mohammed. Buddhisten glauben nicht an Buddha. Christen aber glauben an Christus. Deshalb dreht sich im Christsein so viel um Jesus Christus.

2.
Was wissen wir über Jesus? Über 90% seines Lebens wissen wir nichts. Über die letzten zwei oder drei Jahre wissen wir einiges. Viel wissen wir über die letzte Woche seines Lebens. Am meisten wissen wir über den letzten Tag seines Lebens.

Und doch sind die Wirkungen Jesu bis heute unfassbar. Über Jesus gibt es weltweit die meisten Gedichte, Lieder und Gebäude. Jahr für Jahr werden über ihn unzählige Doktorarbeiten verfasst. An Jesus glauben unzählige Menschen. Viele Mächtige wollen seinen Einfluss verbieten und unterdrücken und verfolgen seine Anhänger.

3.
Wir wollen uns heute das Leben Jesu anschauen. Wir tun das mit Hilfe des Christusliedes im Philipperbrief.

Weil der Text das Besondere an Jesus aufzeigt, wollen wir dieses Lied jetzt gemeinsam nach der Luther-Übersetzung lesen.

6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. 8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.

9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11 und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

 

B.

I.
Strophe 1: Jesus ist das einzige Subjekt. Er handelt. Er geht seinen Weg.

6 Der, obwohl er in göttlicher Gestalt war, es nicht für einen Raub achtete, zu sein wie Gott, 7 sondern er entleerte sich selbst, indem er die Gestalt eines Sklaven annahm und den Menschen gleich wurde und im Aussehen wie ein Mensch befunden wurde, 8 erniedrigte sich selbst, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.

1.
Was für ein Geheimnis! Jesus war, bevor er Mensch wurde, in göttlicher Gestalt. Er war wie Gott. Er war Gott gleich. Er hatte Teil an Gottes Herrlichkeit und Macht. Menschlich gesehen heißt das: Mehr kann man nicht erreichen. Besser geht es nicht.

Was geschah aber? Wiederum menschlich gesprochen: Jesus verließ seine Komfortzone. Er gab dieses schöne Leben auf. Er hielt es nicht wie einen Raub, nicht wie eine Beute fest. Das heißt: Er hat sich nicht verkrallt in seine eigene Größe, in seine Möglichkeiten, in seine Privilegien, in seine Sicherheit.

Jesus entäußerte sich, übersetzt die Lutherbibel. Er entleerte sich, übersetzt die Einheitsübersetzung. Er ließ seine Gottheit los, d.h. er ließ seine göttliche Freiheit los, seine göttliche Selbstbestimmung und Souveränität, seine Überlegenheit, seine Macht, sein Wissen, seine Unsterblichkeit. Es geschah das, was ein Weihnachtslied besingt. „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“ Er wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut. Schauen wir uns dieses Leben näher an!

2.
Alles im Leben Jesu ist freiwilliges Kleinwerden. Hermann Bezzel (1861-1917) hat dazu gesagt, es sei Gottes Art, das Große im Kleinen zu verbergen. Gott habe in Jesus „auf kleinstem Raum mit geringen Mitteln die größte Kraft“ wirken lassen.

Jesus kommt aus der Provinz, aus einem kleinen Kaff. Jesus stammt nicht aus der Oberschicht. Seine Eltern sind Unterschicht. Jesus lebt lange ein sehr einfaches, unauffälliges Leben. Er ist kein Professor, sondern ein Mann vom Bau, ein Handwerker. Er gründet nie eine Organisation. Er hat nie Geld. Er hinterlässt nichts Schriftliches. Er bleibt unverheiratet, was für seine Zeit ungewöhnlich ist.

Sein öffentliches Auftreten und Wirken sind sehr kurz. Zwei, vielleicht drei Jahre. Buddha dagegen wirkte 40 Jahre, Konfuzius 50 Jahre und Mohammed 35 Jahre. Jesus wirkt mit einer geringen Zahl an Worten, Predigten und Geschichten, mit einer geringen Zahl an Taten und Wundern. Das meiste ist schlicht und unspektakulär. Jesus inszeniert sich nie. Er verzichtet auf politische Macht.

Jesus stirbt bereits mit Mitte 30. Er stirbt keinen Heldentod. Er geht nicht gleichgültig und triumphierend in den Tod wie Sokrates, sondern ängstlich und zitternd und doch freiwillig und frei. Sein Tod ist tragisch und dunkel. Es gibt im Judentum keinen einzigen verehrten Märtyrer, der gekreuzigt worden ist!

3.
Alles im Leben Jesu ist ein freiwilliges Dienen. Jesus tauscht sein Leben als Gott ein gegen ein Leben als Sklave. Ein Sklave zurzeit Jesu besitzt keine Freiheit. Gehorsam ist die wichtigste Eigenschaft eines Sklaven. Jesus ist ein Diener. Er dient jedem Menschen. Er zieht wie ein Magnet alles an, was Not und Elend kennt. Er schaut nicht weg. Er wendet sich allen zu, schont sich nicht, hält sich nicht heraus, riskiert sich. Er lässt sich beanspruchen, ohne Ansprüche zu stellen. Er gibt alles, ohne zu fragen, ob es ihm gedankt und gelohnt wird.

Jesus passt sich stets der Bedürftigkeit dessen an, dem er dient. Er sieht jeden in seinen komplizierten Zusammenhängen und erkennt die eine Stelle, an die er anknüpfen kann, wo noch ein verborgener Zusammenhang mit Gott vorhanden ist. Er schaut, wo und wie er eine Verbindung herstellen kann zwischen unserer Not und seiner Kraft, zwischen unserer Schuld und seiner Gnade, zwischen unserer Situation und der Realität Gottes.

Er dient. Mit seinen Kräften. Mit seiner Zeit. Mit seinem Mut. Mit seinem Glauben an Gott. Er dient: dem Glauben der Menschen, der Hoffnung der Menschen, der Würde der Menschen, der Freiheit der Menschen, der Erlösung der Menschen…

4.
Alles im Leben Jesu ist ein freiwilliges Sich-Demütigen. Jesus sagt Ja dazu, dass die Menschen ihn nicht verstehen, ihn missverstehen, ihn widerstehen. Er sagt Ja dazu, dass er belogen wird, dass er kritisch beäugt und abgelehnt wird, dass er von seinen eigenen Leuten verleugnet und verraten wird. Er sagt Ja zum Leiden. Er sagt Ja dazu, dass die Menschen mit ihm machen, was sie wollen. Er sagt Ja zu Spott und Hohn, Unrecht und Gewalt. Heinzpeter Hempelmann sagt es so: „Aus der herrlichen Gestalt des allmächtigen Gottes wird die erbärmliche Gestalt eines gequälten, in Schwachheit gekreuzigten Menschen. Größer können die Gegensätze nicht sein.“ (Lernen vom zu uns gekommenen Gott, gefunden unter Manuskripte auf https://heinzpeter-hempelmann.de/).

Peter Wick fasst es zusammen: „Jesus demütigte sich selbst. Er erniedrigte sich. Er gab seine Größe und Erhabenheit auf, beugte sich ganz runter zu den Menschen, so dass er sogar die Demütigung des Todes freiwillig auf sich nahm. So verzichtete er auf sein Leben… Doch mit dem Tod war noch nicht genug. Er starb nicht irgendeinen Tod, sondern den Verbrechertod am Schandpfahl des Kreuzes. So ‚leerte‘ er noch das höchste Gut der Menschen in der Antike aus: Er verzichtete im Sterben auf seine Ehre und Würde“ (Peter Wick, in: Mit Paulus glauben, Zugänge zum Philipperbrief, S.44).

5.
Daraus ergeben sich zwei Fragen:

Frage 1: Warum tat Jesus das alles?
Es steht in diesem Lied nur, was Jesus tat. Das Lied sagt nicht, warum er es tat. Wir können aus seinen Verhaltensweisen die Gesinnung Jesu ablesen. Jesus achtete seinen Dienst zugunsten für uns Menschen höher als sich, höher als seine Privilegien. Jesus achtete unsere Interessen höher als sich selbst. Das macht seine Besonderheit aus! Das macht seine Glaubwürdigkeit aus! Was für ein Mensch!

Frage 2: Was bedeutet Jesu Verhalten, Jesu Weg für unser Denken über Gott?
Die griechischen Philosophen, besonders Aristoteles, haben sich Gott so gedacht: Gott ist ein vollkommener Geist. Gott denkt immer nur das Perfekte und Höchste, Schönste und Beste. Er ist der unbewegte Beweger, der in sich selbst ruht und nur sich selbst denkt. Dieses Denken hält Gott von der Welt und macht aus Gott den allerheiligsten Egoisten, zum Inbegriff des ständigen Kreisens um sich selbst, zum Archetyp der Selbstbezogenheit. Jesus sagt uns über Gott etwas ganz Anderes. Gott denkt an uns und segnet uns, heißt es in Psalm 115,12. Er ist ein „Backofen voller Liebe“, sagt Martin Luther. Er ist zornig auf uns, weil er uns liebt. Er freut sich mit uns, weil er uns liebt. Er leidet mit uns mit, weil er uns liebt. Er hilft uns, weil er uns liebt. Was für ein Gott!

 

II.
Strophe 2: Gott ist das einzige Subjekt. Jesus ist nicht mehr die handelnde Person.

9 Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm als Gnadengeschenk den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 damit im Namen von Jesus sich jedes Knie der Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen beuge 11 und jede Zunge bekenne, dass der Herr Jesus Christus ist zur Herrlichkeit Gottes, des Vaters.

Jesus hat auf alles, was er hatte, verzichtet. Um unsretwillen! Für uns! In seinem Sterben kam seine letzte Aktivität zum Stillstand. Wir sprechen nicht umsonst von seiner Passion! Dann wurde Gott aktiv. Gott hat Jesus erhöht. Paulus muss bei den Philippern nicht aussprechen, wann das passiert ist. Es ist passiert, indem der Vater Jesus auferweckt hat und ihn auf den Thron zu seinen Rechten gesetzt hat. Wir feiern das an Ostern und an Himmelfahrt.

Gott hat Jesus über die Maßen erhöht, wörtlich heißt es „übererhöht“. Paulus erfindet extra ein Wort dafür! Man hat den Eindruck, dass Jesus nun höher ist als vorher, als er das Gleichsein mit Gott aufgab und seinen Weg der Erniedrigung antrat.

Gott hat Jesus belohnt. Er hat seinen Weg belohnt, seine Demut, seinen Dienst, seine Hingabe, seinen Gehorsam, sein Vertrauen in diesen Weg, den Gott ihm zugemutet hat! Er hat es belohnt, dass Jesus diesen Weg von ganz oben bis in die tiefsten Tiefen des Lebens gegangen ist!

Und gleichzeitig ist es ein Gnadengeschenk. Warum spricht Paulus von einem Gnadengeschenk? Weil es aus dem unverfügbaren Willen Gottes kommt. Und weil es für uns ein Gnadengeschenk ist. Wir werden dadurch beschenkt.

Doch zurück zu Gott und zurück zu Jesus! Worin besteht die Übererhöhung Jesu? Gott hat Jesus den Namen gegeben, der über alle Namen ist. Gott hat Jesus seinen eigenen Namen gegeben. Es ist der geheimnisvolle Name mit den vier hebräischen Buchstaben JHWH, den wir heute normalerweise Jahwe aussprechen und den das Neue Testament mit Herr umschreibt.

Paulus spielt auf eine Stelle im Jesajabuch an. Ich zitiere Jes 45,21-25: Tut es kund, bringt es vor, beratet miteinander: Wer hat dies hören lassen von alters her und vorzeiten verkündigt? Hab ich’s nicht getan, der HERR? Es ist sonst kein Gott außer mir, ein gerechter Gott und Retter, und es ist keiner außer mir. 22 Wendet euch zu mir, so werdet ihr gerettet, aller Welt Enden; denn ich bin Gott, und sonst keiner mehr. 23 Ich habe bei mir selbst geschworen, und Gerechtigkeit ist ausgegangen aus meinem Munde, ein Wort, bei dem es bleiben soll: Mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen schwören 24 und sagen: Im HERRN habe ich Gerechtigkeit und Stärke. Aber alle, die ihm widerstehen, werden zu ihm kommen und beschämt werden. 25 Im HERRN wird gerecht werden Israels ganzes Geschlecht und wird sich seiner rühmen.

Was steht – kurz zusammengefasst – in Jes 45,21-25? (1) Es gibt nur einen Gott für alle Menschen und die ganze Schöpfung. Sein Name ist Jahwe bzw. Herr. (2) Dieser eine Gott ist der Retter aller Menschen. (3) Alle Menschen werden eines Tages diesen einen Gott anerkennen und ihm die Ehre geben.

Das Christuslied wendet nun Jes 45,21-25 auf Jesus an! Jesus Christus ist der Herr! Der gottgleiche Sohn, der ein Mensch wurde, der sich entleert, erniedrigt und gedemütigt hat, der jedem diente, der hingerichtet wurde, hat den Namen seines Vaters übertragen bekommen. Der Vater hat seinen Sohn zum Träger seines eigenen Namens gemacht. Der Vater hat seinen Sohn zum Herrscher der Welt gemacht. Gott gab Jesus einen Teil von sich selbst: seinen eigenen Namen, seine Macht, seine Rolle, seine Funktion, seine Bedeutung. Der Vater verherrlicht damit seinen Sohn, der ihn verherrlicht hat, als dieser ein Mensch war und auf Erden lebte. Wer Jesus so ehrt, wer das von Jesus glaubt, der ehrt damit den Vater!

Peter Wick sagt es so: „Jedes sichtbare und unsichtbare Geschöpf der dreiteiligen irdischen, himmlischen und unterirdischen Schöpfung wird aktiv werden und seine Knie beugen und mit seiner Zunge bekennen: Kyrios Jesus Christus. Dieser Nominalsatz bedeutet: Jahwe ist Jesus Christus. Die ganze Schöpfung wird anerkennen und bekennen, dass Gott seinen Namen auf Jesus übertragen hat“ (Peter Wick, aaO, S.46)

 

III.
Der Zusammenhang des Liedes in Phil 2,1-5

1 Wenn es nun irgendeinen Zuspruch in Christus gibt, wenn irgendeinen liebevollen Trost, wenn irgendeine Geist gewirkte Gemeinschaft, wenn irgendeine (emotionale) Zuneigung und ein Erbarmen, dann erfüllt meine Freude, 2 dass ihr gleich gesinnt seid, indem ihr dieselbe Liebe hat und einmütig auf das eine gesinnt seid 3 nicht aus Selbstsucht oder leerer Ruhmsucht, sondern indem ihr durch Demut einander höher achtet als euch selbst 4 indem jeder nicht auf die eigenen Interessen bedacht sei, sondern alle auch auf die der anderen. 5 Seid so untereinander gesinnt, wie es auch in Christus Jesus angemessen ist / wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.

 

Was für ein Zeugnis für die Gemeinde in Philippi! Paulus, der ein sehr herzliches Verhältnis zu den Christen in Philippi hat, stellt fest, welche Stärken die Gemeinde hat: Zuspruch in Christus, liebevoller Trost, geist-gewirkte Gemeinschaft, emotionale Zuneigung und Erbarmen. Und doch schreibt er: Erfüllt meine Freude, indem ihr die richtige Gesinnung habt und lebt, indem ihr dem Weg Jesu nachfolgt.

Ich sehe 5 Dinge (diese Gedanken leihe ich mir von Guido Baltes), die wir als Gemeinde aus der Gesinnung Jesu, aus dem Weg Jesu für uns ableiten und schlussfolgern dürfen:

1. Loslassen lernen.
2. Hören und gehorchen lernen.
3. Dienen lernen.
4. Jesus groß machen, Gott die Ehre geben.
5. Alle einladen.

Heute will ich nur auf den ersten Punkt eingehen. Loslassen lernen. Wenn wir eine Gemeinde für unsere Stadt, für die Menschen um uns herum sein wollen, müssen wir gewisse Dinge loslassen (lernen).

Lasst uns jede Position der Macht, der Stärke, des Besserwissens loslassen! Dass wir nicht von oben herab reden, nicht aus Überheblichkeit, nicht aus Rechthaberei, sondern aus der Haltung der Demut und des Dienens.

So dass z.B. Menschen mit Zweifel und skeptischen Fragen unter uns ihren Platz unter uns haben können! Dass Menschen mit gebrochenen Lebensgeschichten ihren Platz unter uns haben können. So dass wir bestimmt und freundlich einladen können!

Das ist mein Traum von Gemeinde! Amen!