A.
Einleitung: Über unser Gewissen
1.
Der Mensch ist das mit Gewissen zugleich geadelte und geschlagene Wesen. Helmut Thielicke sagt einmal: “Das Gewissen ist ein Würdezeichen, aber das Würdezeichen eines gefallenen Königs”.
Das Gewissen ist keine christliche Erfindung, sondern es ist etwas Globales und Allgemein-Menschliches. Es gibt keinen Menschen auf dieser Erde, der es nicht mit einem “Du sollst” bzw. „Du sollst nicht“ zu tun hätte. Viele Inhalte sind weltweit gleich. Zum Teil kulturell etwas unterschiedlich. Und jeder Mensch kennt den Kampf zwischen Sollen und Sein.
Wir Menschen leben in einem Dauer-Prozess mit uns selbst, mit anderen, mit Gott. Das Gewissen signalisiert uns einen inneren Zwiespalt. Wir haben wechselnde Rollen: Angeklagte, Zeuge, Verteidiger, Staatsanwälte, Richter. Wir beurteilen, verurteilen uns und andere. Wir verteidigen uns und andere (und Gott).
2.
Schopenhauers skeptische Sicht des Gewissens kann uns selbstkritisch machen: Das Gewissen der Menschen ist zusammengesetzt aus 1/5 Menschenfurcht (Furcht vor Schande u Strafe), 1/5 Furcht vor Gottes Zorn und Gottes Strafen, 1/5 Vorurteile, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit.
3.
Themenanzeige: Es gibt das starke und schwache Gewissen, das böse und gute, das angefochtene und getröstete, das zu enge und das zu weite, das manipulierte Gewissen, das Gewissen als Maßstab (ich bin mit mir und meinem Gewissen im Reinen). Und es gibt das stumme bzw. begrabene Gewissen. Damit befassen wir uns nun.
B.
Teil 1:
I.
Wir tun es mit der biblischen Geschichte aus 2 Sam 11 und 12.
Es ist „eine der infamsten und feigsten Geschichten der Macht: David begehrt die Frau des Hetiters Uria, und er sorgt dafür, dass Uria umgebracht wird. Alles scheint seine Selbstverständlichkeit zu haben, die Macht kauft sich eine Frau und bezahlt mit dem Tod eines Menschen.
Alle spielen mit, und die Gewissen bleiben stumm. Es gibt die Zeit der stummen Gewissen, in der nicht mehr unterschieden werden kann zwischen Recht und Unrecht. Es gibt die Zeit, in der sich die Begierden das Gewissen unterworfen haben. Die Schuld des Königs liegt nicht nur darin, dass er gegen sein Gewissen handelt, sondern dass er – im Sinne des Wortes – gewissenlos ist. Man ist nicht nur verantwortlich vor seinem Gewissen, man ist auch verantwortlich für sein Gewissen.
Die Stunde des begrabenen Gewissens ist die Stunde der Propheten. Propheten sind Menschen, die in verblendeten Zeiten den Willen Gottes erkennen und widerborstig auf ihn bestehen. Am schlimmsten sind die Zeiten, in denen niemand Einspruch erhebt gegen die Geläufigkeit des Unrechts, die Zeit ohne Propheten. Ein ganzes Volk kann verkommen, ohne dass es bemerkt, dass es verkommt.
Gott lässt den verkommenen König nicht gnadenlos verkommen. Seine Gnade: Er schickt ihm den Propheten Nathan. Wie beiläufig erzählt der Prophet dem König die Geschichte von dem reichen Mann, der dem armen Mann das einzige Schaf wegnimmt, um ein Gastmahl auszurichten.
Der König erkennt das Unrecht am fremden Fall, an dem Fall des räuberischen Reichen, von dem der Prophet erzählt. Sich selbst erkennt er noch nicht in der Geschichte. Die Gewissenlosigkeit von anderen zu erkennen, ist leichter, als die eigene Verkommenheit zu sehen.
David gerät „in großen Zorn“, als er die Geschichte hört, die er noch nicht als seine erkennt. Und er spricht sein eigenes Urteil: So wahr der Herr lebt! Dieser Mann ist ein Kind des Todes! Dann zieht der Prophet den Vorhang von seiner Erzählung: Du bist der Mann!“ (Fulbert Steffenky, Der Schatz im Acker, S.33f)
II.
Das erwachte, das böse, das funktionierende Gewissen
1.
David ist ein Ehebrecher und Mörder! Und doch ist er für uns, was den Umgang mit unserer Schuld angeht, ein Vorbild. Wie ging die Geschichte weiter? Wie reagiert David auf das, was der Prophet Nathan ihm im Namen Gottes sagte?
„Die erstaunliche Größe des Königs: Er weicht dem Urteil nicht aus. Seine Würde besteht nicht darin, dass er nicht gesündigt hat. Sie besteht darin, dass er der Einsicht in sein Verbrechen nicht ausweicht. Er wagt es, sein Gesicht zu verlieren. „Ich habe gesündigt gegen den Herrn!“, sagt er. Er entschuldigt nichts, er vertuscht nichts, er beschönigt nichts. Er wehrt sich nicht gegen das Urteil Gottes und seines Propheten.
Er hätte die Stimme Gottes abwürgen und den Propheten töten können, wie es die Macht gewöhnlich tut. Vielleicht ist es das Größte, was einem Menschen gelingen kann, sich vor der eigenen Schuld nicht zu verstecken und wehrlos zu werden vor dem Urteil Gottes und des eigenen Gewissens.
Der 51. Psalm, der große Bußpsalm, wird David zugeschrieben und darin die Aussage, dass Schlachtopfer und Brandopfer nichts ausrichten gegen die eigene Schuld, dass Gott aber den „geängsteten Geist“ und das „zerschlagene Herz“ nicht verachtet.
David hat sich sein Herz, sein Ansehen vor sich selbst und vor anderen zerschlagen lassen. Er bricht mit sich selbst, indem er dem harten Satz des Propheten nicht ausweicht: „Du bist der Mann!“ Welche Würde, sich die Maske vom Gesicht reißen zu lassen! Gott würdigt die Würde Davids, indem er ihn bestraft. Er vergibt, aber er befreit den König nicht von den Folgen seines Verbrechens. Er lässt ihn leben und neu anfangen, beladen mit de Last seiner Untat. David ist ein Gesegneter und Geschlagener zugleich. Gott verbilligt nichts, auch nicht seine Gnade.“ (Fulbert Steffensky, Der Schatz im Acker, S.33f)
III.
Das Geschenk, eine andere, ein anderer werden zu können
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Was lernen wir aus vielen anderen Geschichten der Bibel, aus vielen Geschichten des Lebens?
„Wer Sünde und Schuld nicht nennen kann, verspielt eine der wundervollsten Fähigkeiten, nämlich ‚das Recht, ein anderer zu werden‘ (Dorothee Sölle); das Recht, sich zu bekehren.
Das Eingeständnis der Schuld ist der Abschied von der Selbstverholzung. Ohne Erkenntnis der eigenen Sünde setzt man sich selber fort, bis die letzte Freiheit verspielt ist. Man kann keine neuen Wege gehen, man kann nicht mit sich selber brechen, und so ist man ein Gefangener des eigenen kärglichen Herzens.
Vor allem aber fordert die Blindheit sich selbst gegenüber Opfer. Das gepanzerte Ich walzt nieder, was sich ihm gegenüberstellt. Es kann sich nicht ganz verschweigen, dass es im Unrecht ist. Umso erbitterter hält es an sich selber und der eigenen Kärglichkeit fest, koste es, was es wolle…
Wer Sünde nicht denken kann, der kann auch keine Veränderung wollen. Er hat keine Verantwortung sich selber, der Welt und Gott gegenüber; oder noch schlimmer und blasphemischer: Er hat seine Verantwortung an Gott selber abgegeben; klammert sich nur noch an die Versprechen Gottes und vergisst dessen Zorn.“
(Fulbert Steffensky, gefunden bei Thomas Maier, Freundesbrief 4/2020 der Missionsschule Unterweissach, S.8)
Es ist ein Akt der Selbstliebe, dass wir die Möglichkeit, ein anderer Mensch zu werden, nicht verspielen.
C.
Teil 2: Die Beichte und der Zuspruch der Vergebung
I.
Zwei Zitate zur Beichte
„Gott ist einsam geworden. Es gibt keine Sünder mehr.“ (Paul Schütz)
„Man muss alles beichten, was das sündige Herz bewegt. Es ist einem Brechmittel ähnlich, das man zur Heilung seines Magenleidens benutzt. Danach wird die Gesundheit schnell wiederhergestellt. Nach einem aufrichtigen Bekenntnis kann man sofort ein gutes Leben beginnen.“ (Starez Theophan)
II.
In der Beichte steckt ein großes Entlastungspotential.
Die Beichte ist ein Angebot Gottes: Gott ist bereit, um Jesu Christi willen Menschen die Sünden zu vergeben.
Die Beichte ist ein Zeichen für das Menschsein des Menschen. Sie steht im Dienst seiner Würde. Zum Menschsein gehört das Schuldigwerden dazu. Wir werden schuldig an unseren Nächsten. Die Möglichkeit, um Entschuldigung zu bitten, gehört zur Würde eines Menschen. Der Mensch ist keine Maschine.
„Die Beichte könnte wieder so ein Ort und eine Zeit werden, in der Menschen sich artikulieren, aussprechen, Worte und vor allem Gehör finden, und damit Beachtung und Wertschätzung“ (Peter Zimmerling)
In der Beichte wird die Vergebung Gottes zugesprochen. Auch für die Schuld, die nicht wiedergutzumachen ist. Das ist gegenüber jeder Therapie von großem Vorteil. Die Beichte ist ein Freispruch. Sie ist gültig und wirksam, unabhängig vom nachfolgenden Tun des Beichtenden.
Hinweis bzw. Problem-Anzeige: Wenn die Beichte nachhaltig wirken soll, bedarf es einer neuen Lebensausrichtung.
III.
Die Beichte vom Evangelium her verstanden
1.
Der Mensch darf nicht zur Beichte gezwungen werden.
2.
Der Beichtende muss nur die bewussten Sünden bekennen.
Die Wirksamkeit ist nicht von der Vollständigkeit der aufgezählten Sünden abhängig.
Die Gültigkeit ist auch nicht von der echten oder ganzen Reue des Beichtenden abhängig.
3.
Die Beichte stärkt die Verantwortlichkeit des Menschen und trägt damit zur Stärkung des Selbstwertgefühls bei.
Das vom althochdeutschen bijihte (Beichte) abgeleitete Verb bedeutet Ich sagen, bejahen: Ich übernehme für mich, mein Tun und Unterlassen die Verantwortung.
Die Kehrseite des Unschuldswahns lautet nämlich: „Wo es keine Schuld mehr gibt, gibt es auch keine Freiheit und keine Verantwortung und damit keine Menschenwürde“ (Zimmerling)
4.
Die Beichte ist persönliche Erfahrung des Evangeliums. Ich muss mit meiner Schuld und Schuldverflochtenheit nicht selber fertig werden.
Deshalb ist sie das Ende der Selbst-Überanstrengung und Selbst-Überforderung des Menschen. Ich darf zugeben: Ich bin am Ende. Ich bin am Ende meiner Möglichkeiten. Ich halte das mit Dir, Herr, aus.
5.
Die Beichte ist ein Geschenk. Sie schenkt
• den Durchbruch zur Gemeinschaft mit anderen. Sie ist das Gegenteil von Schuld, die einsam macht.
• einen gesunden Schmerz. Sie tut unserem Stolz weh. Es ist eine Herausforderung, vor einem Menschen sich zu outen.
• den Durchbruch zu einem neuen Leben. Ich darf neu anfangen.
• Gewissheit. Die Vergebung hat einen Zeugen. Ich habe keinen Grund zu zweifeln.
6.
Wie ist das „Ich spreche dich frei“ bzw. das „Dir sind deine Sünden vergeben“ zu verstehen?
Martin Luther machte hier eine entscheidende Entdeckung über der Frage, wie dieser Zuspruch zu verstehen ist.
Das klassische Verständnis ist eine Aussage oder Feststellung: Der Priester stellt die Reue fest. Er verweist lediglich auf etwas, was schon geschehen ist. Er sagt es nur zur Vergewisserung.
Luther versteht den Satz als promissio, als Versprechen und Zusage. In diesem Wort geschieht etwas. Der Mensch empfängt Gottes Zusicherung. Der Satz stellt etwas her: nämlich die Vergebung und die Gottesgemeinschaft. Der Satz ist ein Gnadenmittel. Er macht den Beichtenden über Gottes Geschenk gewiss.
7.
Die Beichte macht deutlich: Ich brauche den Bruder. Ein Sprichwort sagt: „Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen.“ Das Wort Gottes, das mir durch einen anderen Menschen zugesprochen wird, ist stärker als das Wort Gottes im eigenen Herzen. Ich kann mir das helfende Wort nicht selber sagen.
„Es heißt…, dass ein Christ den andern braucht um Jesu Christi willen. Er braucht die Schwester, den Bruder als Träger und Verkündiger des göttlichen Heilswortes. Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte der Schwester und des Bruders; jener ist ungewiss, dieser ist gewiss. Darum braucht der Christ den Christen, der ihm Gottes Wort sagt, er braucht ihn immer wieder, wenn er ungewiss und verzagt wird; denn aus sich selbst kann er sich nicht helfen, ohne sich um die Wahrheit zu betrügen.“ (Dietrich Bonhoeffer)